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Organische Chemie für Biologen - Vom Methan zu Biomolekülen
02 – Alkane und Cycloalkane
Empfehlung: Kapitel 2-4, Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005.
Priv.-Doz. Dr. Stefan Immel Universität Leipzig, Wintersemester 2007/2008.
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Alkane
Stoffklasse der Alkane
Gesättigte Kohlenwasserstoffe die sich nur aus C und H zusammensetzen bilden die Stoffklasse der Alkane.
? Allgemeine Formel CnH2n+2 (nur C + H), keine Heteroatome ? Ausschließlich C-C-Einfachbindungen, keine funktionellen Gruppen ? Alle C-Atome sind sp3-hybridisiert (Tetraeder) ? Bindungswinkel H-C-H, C-C-H und C-C-C ~ 109.5° ? Bindungslängen d(C-C) ~ 154 pm (1.54 Å) und d(C-H) ~ 108 pm (1.08 Å)
Vorkommen + Bedeutung
? Erdgas: 50-80% Methan, 1-20% Ethan (+ Propan, Butan, CO2 , N2 , H2S) ? Erdöl: Trennung durch Destillation (? Raffinerie) Benzin (Sdp. 70-90°C), Kerosin, Diesel (Sdp. 300-350°C), Heizöl
Biochemische Beispiele
? Sexualpheromone der Honigbiene Andrena nigroaenea und Lockstoffe der Orchidee Ophrys sphegodes (Tricosan C23H48 , Pentacosan C25H52 , Heptacosan C27H56 ) ? Wasserabweisende Wachse der Lupinien (C29H60 und C31H64 )
Seite Trivialnamen
griechische Zahlwörter
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Alkane
Nomenklatur der unverzweigten Alkane
Die homologe Reihe der unverzweigten Alkane („normale“ n-Alkane) ergibt sich ausgehend vom Methan (CH 4 ) durch schrittweisen Aufbau einer Kohlenstoff-Kette durch Einfügen von -CH 2 - (Methylen) Einheiten. Die ersten Vertreter dieser Reihe (CH 4 –C 4 H 10 ) haben Trivialnamen (Methan, Ethan, Propan und Butan), danach erfolgt die Bildung des Namens über griechische Zahlwörter (penta, hexa, hepta, …) und Anfügen der Endung -„an“ (engl.: -„ane“).
Abb.: © Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005.
gasförmig
flüssig
fest
Stoffklasse: Allgemeine Formel:
Methan
Propan
Alkane (Endung -"an") C nH 2n+2
Ethan
usw.
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Alkane
Kurzschreibweisen der unverzweigten Alkane und daraus abgeleitete Reste
Name Formel Kurzformel CnH2n+2 abgeleiteter Rest (Endung -"yl") -CnH2n+1 Methan Ethan
Propan
Butan
Heptan
Methyl Ethyl
Propyl
Butyl
Heptyl
Isomerie – unverzweigte und verzweigte Alkane
Für Reste mit drei oder mehr Kohlenstoffatomen tritt ein zusätzliches Problem auf: ein Substituent oder eine funktionelle Gruppe kann an verschiedenen Positionen gebunden sein, wobei unterschiedliche Verbindungen entstehen:
n-Propyl n Pr CH2CH2CH3 CH3 iso-Propyl i Pr CH CH3 seltener verwendet:
neo-Pentyl neo Pentyl CH2C CH 3
iso-Butyl
i Bu
wobei " " für einen anderen Rest oder eine funktionelle Gruppe steht, z.B.:
Methyl-propyl-ether =
Methyl- Propyl-
n-Butyl n Bu CH2CH2CH2 CH 2
tert-Butyl t Bu C CH3 CH 3
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Alkane
Die Präfixe
? Das Präfix "n" (= "normal") zeigt generell unverzweigte Ketten an. ? Das Präfix "i" (oder "iso" = "isomeric") zeigt das Vorliegen einer endständigen -CH(CH3 ) 2 Gruppe bei ansonsten unverzweigter Kette.* ? Das Präfix „s" (oder „sec" = „secondary") deutet eine Bindung über ein sekundäres C-Atom an (siehe unten). ? Das Präfix „t" (oder „tert" = „tertiary") deutet eine Bindung über ein tertiäres C-Atom an (vor allem bei –C(CH3 ) 3 ). ? Das Präfix „neo“ (= „new“) sollte nur für Pentyl-Reste verwendet werden, und zeigt eine endständige tert-Butyl-Gruppe an.
Unterschiedliche Arten von Wasserstoff- und Kohlenstoffatomen
n-Heptan
iso-Heptan
Häufig wird von primären, sekundären, tertiären oder quartären H- und C-Atomen gesprochen:
? Primäre C-Atome tragen nur einen weiteren C-Substituenten (Rest), die Protonen (H-Atome) in Methyl-Gruppen heißen auch primäre H-Atome. ? Sekundäre C-Atome sind an zwei C-Substituenten gebunden, sekundäre Protonen liegen in -CH2-Gruppen vor. ? Tertiäre C-Atome tragen drei C-Substituenten, analog H in –CH-Gruppen. ? Quartäre C-Atome binden vier C-Substituenten und keine H-Atome. Der Ausdruck „quartär“ wird in der Nomenklatur nicht als Namenszusatz verwendet.
tert-Butyl-methyl-ether O
(ein Lösungsmittel)
neo-Pentan
* Auch hier die missverständliche Verwendung des "Iso"-Zusatzes!
Isooktan * (Benzinbestandteil)
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Konstitution und Isomerie
Isomerie
In der Stoffklasse der Alkane können ab dem Butan isomere Verbindungen bei gleicher Summenformel vorliegen. Das Auftreten von unterschiedlichen Verbindungen mit exakt gleicher Summenformel, aber unterschiedlicher Verknüpfungsart oder Reihenfolge der Bindungen wird als Konstitutions-Isomerie bezeichnet. Definition: Konstitutions-Isomere lassen sich bei gleicher Summenformel nicht durch Translation, Rotation, oder Drehung um Einfachbindungen und ohne Bindungsbruch ineinander überführen, sondern nur unter Bindungsbruch. H H H H H
n-Butan
(2 primäre und 2 sekundäre C-Atome)
? H C C H ?
iso-Butan
(3 primäre und ein tertiäres C-Atom)
n-Butan iso-Butan
Die Anzahl möglicher Isomere in der Reihe der Alkane (C n H 2n+2 ) steigt mit zunehmender Anzahl der C-Atome (n) rapide an. Für das Schriftwerk ist es von immenser Bedeutung international verbindliche Regeln einer Nomenklatur (Namensgebung) festzulegen. Für die Chemie übernimmt dies seit 1892 die „International Union of Pure and Applied Chemistry“ (IUPAC). Das Regelwerk für die Alkane dient als Basis zum Verständnis der Nomenklatur aller anderen Stoffklassen und soll daher hier in Grundzügen diskutiert werden.
Die 5 Konstitutions- Isomeren von C6H12
H3C OH H3C O ? CH3 Alkohol Dimethylether
C-C-O- Bindungen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 15 20
C-O-C- Bindungen
Formel n Isomere
1 1 1 2 3 5 9 18 35 75 4347 366319
Die Vorlesung wird noch zwischen Konstitution, Konfiguration und Konformation unterschieden. Konstitution bezeichnet die Art und Reihenfolge der Verknüpfungen (Bindungen) in einem Molekül.
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Nomenklatur verzweigter Alkane
Der lange Weg – Von der Struktur zum Namen
Die Namensgebung chemischer Verbindungen muss unabhängig von der Art und Weise erfolgen, wie die Strukturformel gezeichnet wird. Im Fall der Alkane gibt es daher eine Reihe von Regeln die in der Reihenfolge abnehmender Priorität durchlaufen werden müssen, bis man zu einem eindeutigen Namen kommt.
Lineare, unverzweigte Alkane werden mit den vorne angegeben Stammnamen und dem Präfix „n“- benannt. Verzweigte Alkane werden als „substituierte“ und „durchnummerierte“ Ketten aufgefasst und nach folgenden Regeln analysiert:
1. Längste Kette
Die längste, unverzweigte Kohlenstoff-Kette ergibt den Stammnamen des Moleküls (Achtung: nicht immer sind die längsten Ketten sauber und linear gestreckt geschrieben und damit sofort erkennbar). Im gleichen Schritt werden die Namen der Substituenten (alle an die Kette gebundenen Reste außer H) bestimmt:
2. Kettennummerierung
IUPAC Nomenclature of Organic Chemistry – Recommendations 1979 (Hydrocarbons, acyclic): http://www.acdlabs.com/iupac/nomenclature/
längste Kette: C10 ? Decan (Stammname)
ein Substituent ? Methyl
Die längste Kette wird von Anfang bis Ende durchnummeriert, so dass der Substituent am C-Atom mit der niedrigsten Nummer in der Kette steht:
Positionsnummer Substituent Stammname
3-Methyldecan
Bindestrich kein-Bindestrich
2 3 4
falsch: 8-Methyldecan 2-Ethylnonan
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Nomenklatur verzweigter Alkane
3. Mehrere Substituenten
Trägt die Hauptkette mehrere Substituenten, so wird die Nummerierung so gewählt, dass sich an der ersten unterschiedlichen Stelle eine kleinere Nummer ergibt. Die Substituenten werden dann alphabetisch geordnet und mit den entsprechenden Positionsnummern dem Stammnamen vorangestellt:
? Methyl
drei Substituenten ? Trimethyl
? Methyl
5 4 6
3 1 2
3 1 2
? Ethyl
? Propyl
Positions- Nummern
Substituent Stammname
2,3,5-Trimethylhexan
Zahlwort (Multiplikator)
2,7,8-Trimethyldecan
alphabetisch "methyl" vor "propyl"
5-Methyl-4-propylnonan
alphabetisch "ethyl" vor "methyl"
6-Ethyl-2,3-dimethyldecane
falsch: 2,4,5-Trimethylhexan
falsch: 3,4,9-Trimethyldecan
falsch: 4-Propyl-5-methylnonan 5-Methyl-6-propylnonan
falsch: 2,3-Dimethyl-6-ethyldecane
Zahlwörter und Multiplikatoren für gleiche Substituenten: 2x (di), 3x (tri), 4x (tetra), 5x (penta), … Diese Vorsilben werden bei der alphabetischen Ordnung der Substituenten nicht berücksichtigt!
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Nomenklatur verzweigter Alkane
4. Komplexe Substituenten
Die Nomenklatur verzweigter Alkane wird bei Vorliegen komplexer Substituenten (d.h. Substituenten, die nochmals verzweigt sind) beliebig kompliziert. Hier nur ein Beispiel, für weitere Regeln ist je nach Bedarf auf die Web-Seiten der IUPAC bzw. auf Nomenklatur-Computerprogramme* zurückzugreifen:
? 7-isopropyl
2 gleichartige, komplexe (verzweigte) Substituenten ? Vorsilbe "bis" (anstatt "di")
3 1 2
? 2,8-dimethyl
? 5,6-bis(2-methylbutyl)
Positionsnummern an der Hauptkette
längste Kette des verzweigten Substituenten ? butyl (Nummerierung beginnt an der Verknüpfung zur Hauptkette)
"unmöglich"
"einfach"
diese Seitenkette trägt in Position "2" noch eine Methyl-Gruppe
Positionen entlang der Hauptkette
* Zum Beispiel: ChemDraw Ultra V11.0, Cambridge Soft, 2007.
7-Isopropyl-2,8-dimethyl-5,6-bis(2-methylbutyl)decan
Substituenten
Alphabetische Ordnung: Isopropyl vor Methyl vor Methylbutyl
Verzweigungsposition in der Seitenkette
Stammname
Ist es jemandem aufgefallen das dies auch eine C 10 (Decan) Kette ist? Warum ist diese nicht als Hauptkette zu wählen? Ich bin gespannt ob ich darauf angesprochen werde.
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Nomenklatur verzweigter Alkane
Der kurze Weg – Vom Namen zur Struktur
Das letzte Beispiel hat gezeigt, dass es sehr schwer bis unmöglich sein kann, für komplexe Strukturen einen exakten Namen zu finden (zu den vier Regeln die hier diskutiert wurden gibt es noch eine Reihe weiterer, die solange herangezogen werden müssen bis eine eindeutige Nummerierung erfolgen kann). Glücklicherweise ist der umgekehrte Weg viel einfacher: Man liest die Namen einfach rückwärts. Ausgehend vom Stammnamen wird eine entsprechende Kette gezeichnet, von Anfang bis Ende in einer beliebigen Richtung durchnummeriert und anschließend mit Substituenten in den korrekten Positionen „dekoriert“. Dieses Verfahren kann von entscheidender Bedeutung sein, da in vielen Experimentalvorschriften in der Originalliteratur nur die Namen, nicht unbedingt aber auch die chemischen Formeln angegeben sind. Sie müssen in der Lage sein, Namen in Formeln zu übersetzen, der umgekehrte Weg ist von geringerer Bedeutung! Hier noch drei nicht ganz ernst gemeinte Übungsbeispiele:
4,7-Di-sec-butyl-3-ethyl-2,2,8,9,11-pentamethyldodecan
4-Isopropyl-8-methyl-7-(3-methylpentyl)pentadecan
7-Sec-butyl-8,9-dimethylheptadecan
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Cycloalkane
Cyclische Verbindungen
Die Fähigkeit von Kohlenstoff homonukleare Bindung einzugehen ist nicht nur auf lineare Systeme beschränkt, sondern bietet auch die Möglichkeit cyclische Systeme in einer großen Vielfalt auszubilden. Den Alkanen sehr ähnlich sind die Cycloalkane, wobei das Präfix „cyclo“ schon anzeigt, dass es sich um ringförmige Verbindungen handeln muss, die aus drei oder mehr C-Atomen aufgebaut sind (nach oben sind theoretisch keine Grenzen gesetzt). Die Nomenklatur der Cycloalkane folgt weitgehend der offenkettigen Alkane, mit zwei Ergänzungen:
1. Ringe bilden den Stammnamen
Bei cyclischen Strukturen entfällt die Suche nach der „längsten Hauptkette“, der Ring bildet den Stammnamen.
2. Nummerierung
Der Ring wird durchnummeriert, so dass der erste Substituent im Alphabet die niedrigste Nummer erhält.
Nomenklatur analog zu den Alkanen:
6 5 1
Methylcyclopentan
Cyclopentylcyclohexan
1-tert-Butyl-3-methylcyclohexan
* Bei monosubstituierten Ringen wird die Positionsangabe (immer „1“) im Namen weggelassen..
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Cycloalkane
Eigenschaften
Cyclopropan und Cyclobutan sind bei Raumtemperatur gasförmig, während Cyclopentan, Cyclohexan (ein häufig verwendetes Lösungsmittel), Cycloheptan und Cyclooctan flüssig sind. Die Eigenschaften der Cycloalkane sind in vieler Hinsicht ähnlich zu denen der Alkane, so dass diese zusammen diskutiert werden können.
Vorkommen
Vor allem substituierte (mit weiteren funktionellen Gruppen ausgestattete) carbocylische (neben heterocyclischen Systemen, die N, O, S oder andere Heteroatome im Ring enthalten) und polycyclische Ringsysteme sind in der Natur weit verbreitet und spielen vor allem in der Klasse der Terpene und Steroide eine herausragende Rolle.
Chrysanthemsäure
Grandisol
Menthol
Muscon Moschus Keton, 3-Methylcyclopentadecanon
Cholesterin
Testosteron
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Apolarität und Polarität
kleine Elektronegativitäts-Differenz zwischen C und H-Atomen
ENH = 2.2 ENC = 2.6 H C d d kleine Dipolmomente (µ) der C-H-Bindungen ENH = 2.2 ENO = 3.4 H intramolekular: H H intramolekular:
tetraedrische Anordnung führt zur gegenseitigen Aufhebung der Dipolmomente ? Methan hat kein permanentes Dipolmoment
intermolekular: temporäres Dipolmoment intermolekular:
schwache Wechselwirkung temp. Dipol / induz. Dipol (London-Dispersions-Kräfte) Kraft F ~ 1 / r 6
große Elektronegativitäts-Differenz zwischen O und H-Atomen
große Dipolmomente (µ) der O-H-Bindungen
µ total = 0.0 Debye µ total = 1.85 Debye
induziertes Dipolmoment
gewinkelte Anordnung führt nicht zur gegenseitigen Aufhebung der Dipolmomente ? Wasser hat ein permanentes Dipolmoment
Wechselwirkung perm. Dipol / perm. Dipol (polare Kräfte) Kraft F ~ 1 / r 6
Wasserstoff-Brückenbindungen (ca. 2-3.5Å)
permanentes Dipolmoment
d d H2O d d H2O d
? Eigenschaften der Alkane: ? Eigenschaften von Wasser (und Alkoholen):
• unpolar / hydrophob (= lipophil) • schwache intermolekulare Kräfte • niedriger Siedepunkt (CH 4: -162°C)
gegenseitige Unmischbarkeit
• stark polar / hydrophil (= lipophob) • starke intermolekulare Kräfte • hoher Siedepunkt (H 2O: 100°C)
Van-der-Waals Wechselwirkungen: alle intermolekulare Kräfte einschließlich Dipol / Dipol (Keesom WW), Dipol / induz. Dipol (Debye WW) und London-Dispersion (temp. / induz. Dipol)
H-Brückenbindungen
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Elektrostatische und Hydrophobe Wechselwirkungen
Intermolekulare Kräfte
Intermolekulare Wechselwirkungen (WW) spielen insbesondere in Enzymtaschen eine entscheidende Rolle. Durch spezifische Wechselwirkungen von geladenen Aminosäuren (polare und elektrostatische WW) oder unpolaren Seitenketten der Aminosäuren (hydrophobe WW) werden Substrate hochselektiv erkannt und gebunden.
Computermodelle können die Substraterkennung und Wechselwirkungen in Enzymtaschen analysieren und „bewerten“. Die nebenstehenden Abbildungen zeigen polare und hydrophobe Bereiche auf einer Enzymoberfläche bei gebundenem Substrat an (Beispiel aus eigener Forschungsarbeit):
Elektrostatische WW: Blaue Oberflächenbereiche zeigen negative Potentiale, orange bis rote Farben positive Potentiale an:
Hydrophobe WW: Gelbe und blaue Farben wurden verwendet um die hydrophoben (gelb) und hydrophilen Bereiche in einer Enzymtasche zu kennzeichnen:
Eine tief greifende Diskussion dieser Modelle würde den Rahmen der Vorlesung sprengen. Andere Beispiele: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/graphics/gallery/
Seite 02-15
Konstitution und Konformation
Dreidimensionale Strukturen
Alle Atome und Moleküle haben eine dreidimensionale Ausdehnung und intermolekulare Wechselwirkungen lassen sich nicht ohne genaue Berücksichtigung von Molekülgeometrien diskutieren (vor allem bei komplexen Molekülen wie Enzymen ist dies essentiell). An dieser Stelle soll eine kurze Einführung in die Prinzipien der Konformationsanalyse (Analyse der Molekülgeometrie) der Organischen Chemie gegeben werden (Chemie Nobelpreis 1969, D. Barton und O. Hassel, „for their contributions to the development of the concept of conformation and its application in chemistry“).
Definitionen einiger Begriffe
? Isomere Moleküle, die bei gleicher Summenformel (Elementzusammensetzung) unterschiedliche physikalische oder chemische Eigenschaften besitzen; Unterteilung in Konstitutions- und Konfigurations-Isomerie (siehe Stereochemie). ? Konstitution Atomtypen und ihre Verknüpfungsart (siehe vorne), die Konstitution macht noch keinerlei Aussage über Molekülgeometrien (Konfiguration und Konformation). ? Konformation Räumliche Anordnung von Atomen und Geometrie von Molekülen und Gruppen. ? Konformere Spezifische Molekülgeometrien, die sich durch Rotation um eine oder mehrere Einfachbindungen ineinander überführen (umwandeln) lassen. Im allgemeinen wandeln sich Konformere (bei Raumtemperatur) schnell in einander um, so dass sie physikalischchemisch nicht trennbar sind. ? Rotamere Molekülgeometrien, die sich nur durch Rotation um eine Einfachbindung ineinander umwandeln lassen (Rotations-Konformere).
Derek Barton (1901-1998) Nobelpreis Chemie 1969.
Eine Zusammenstellung von Begriffserklärungen der Organischen Chemie findet sich hier: http://www.chem.qmul.ac.uk/iupac/gtpoc/
Seite Perspektivische Formel
Ethan C 2H 6
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Konformation und Molekülgeometrie
Ethan
hinter der Papierebene
Drehung der rechten Methylgruppe um 180°
Blickrichtung
Blickrichtung
Sägebock-Projektion
Blickrichtung entlang der C-C-Bindung
Blickrichtung entlang der C-C-Bindung
vorne
vorne
hinten
hinten
Newman-Projektion
hinten
hinten
HH H
vorne
vorne
Die bislang verwendeten Formeln haben nur die Konstitution von Molekülen beschrieben, um dreidimensionale Geometrien abzubilden, sind perspektivische Formeln, Sägebock-Projektion und die Newman-Projektion geeignet:
3x sterische H-H Abstoßung
Anmerkung: Ein Molekülbaukasten ist im folgenden sehr hilfreich! Wir haben auch noch nicht über Stereochemie gesprochen …
gestaffelte Konformation (staggered, auf "Lücke")
energetisch günstiger
ekliptische Konformation (ecliptic, verdeckt)
energetisch ungünstiger
Durch den kürzeren H-H-Abstand und die daraus resultierende sterische Abstoßung in der ekliptischen Konformation sind diese energetisch ungünstiger als die gestaffelten Geometrien.
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Konformation und Molekülgeometrie
Butan
Komplizierter wird die Situation, wenn beide „Enden“ der zu drehenden C-C-Bindung noch Substituenten tragen, wie hier am Beispiel von Butan gezeigt (Drehung um die zentrale C 2 -C 3 -Bindung):
Rotation der linken Methyl-Gruppe um je 60° im Uhrzeigersinn; Blickrichtung für die Newman-Projektion jeweils von rechts (C 2 ? C 3):
3 H3C 4
1 CH3 H CH3 CH3 H3C CH3 CH3 H CH3 CH3 H H ß H 4 CH3 H C2 H C3 ß H H H3C H H H3C H ß H H H H ß H H H H H H H H H ß CH3 H H H ß H CH3 H H H ß H CH3 H H ß ~ -180° ß ~ -120° ß ~ -60° ß ~ ±0° ß ~ +60° ß ~ 120° ß ~ +180° anti-periplanar anti-clinal syn-clinal syn-periplanar syn-clinal anti-clinal anti-periplanar trans (-)-gauche cis (+)-gauche trans
In der Newman-Projektion bezeichnet der Torsionswinkel die Verdrehung des vorderen gegen den hinteren Substituenten (siehe nächste Seite). Für |ß| > 90° werden die Rotamere mit „anti“, für |ß| < 90° mit „syn“ bezeichnet. Für ß = 0° und 180° kommt das Suffix „periplanar“ hinzu (die Atome C 1 , C 2 , C 3 und C 4 liegen dann in einer Ebene!), ansonsten wird die Bezeichnung „clinal“ verwendet (die Ebenen der Atome C 1 -C 2 -C 3 und C 2 -C 3 -C 4 sind dann gegeneinander „gekippt“). Die Bezeichnungen „trans“, „gauche“ und „cis“ werden auch häufig verwendet.
| ß | > 90° | ß | < 90° | ß | > 90°
identische Konformationen nach einer 360° Drehung
3 H3C 4
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Konformation und Molekülgeometrie
Einschub: Torsionswinkel
In allen Bereichen der Konformationsanalyse (auch bei Aminosäuren in Enzymen*) wird der Torsionswinkel ß verwendet, um an einer Bindung die Verdrehung von zwei Substituenten gegeneinander zu beschreiben: hier die Verdrehung der Methylgruppen C 1 und C 4 an der Bindung C 2 -C 3 (Atomreihenfolge C 1 -C 2 -C 3 -C 4 ). ß ist definiert als der Winkel zwischen den Ebenen, die durch die Atome C 1 -C 2 -C 3 (blaue Ebene) bzw. C 2 -C 3 -C 4 (orange Ebene) gebildet werden. In der Newman-Projektion taucht dieser Winkel direkt ablesbar als Verdrehungswinkel zwischen den Endgruppen (C 1 und C 4 ) auf.
Konvention ist es, den Winkel als positiv zu zählen, wenn in der Newman-Projektion der vordere Substituent im Uhrzeigersinn gedreht werden muss, um mit dem hinteren in Deckung zu kommen (hier: ß = +60°), ansonsten wird ß negativ.
Dabei ist es gleichgültig, ob man von „hinten“ oder von „vorne“ auf die zentrale Bindung schaut, die Torsionswinkel (oder auch Dihedralwinkel oder Diederwinkel) C 1 -C 2 -C 3 -C 4 und C 4 -C 3 -C 2 -C 1 haben den gleichen Betrag und das gleiche Vorzeichen. Gestaffelte Konformationen sind durch ß = -60°, +60° und ±180° gekennzeichnet, während ß = - 120°, 0° und +120° ekliptischen Geometrien entspricht.
Ethan und Butan
Die folgenden Abbildungen geben das Energieprofil der Rotation von Ethan bzw. Butan um jeweils die zentrale C-C- Bindung wieder. Zu beachten ist:
? Ekliptische Rotamere sind energiereicher als gestaffelte, weil die Abstände der Substituenten untereinander geringer sind. Drei Energie-Minima entsprechen den drei gestaffelten Rotameren, drei Energie-Maxima den ekliptischen Formen (Achtung: ß = -180° ist identisch mit ß = +180°). ? Die Energiebarrieren verschieben sich vom Ethan zum Butan (größere Abstoßung zwischen den Methylgruppen im Butan im Vergleich zu den Wasserstoffatomen des Ethans).
* Die in der Biochemie verwendeten Ramachandran-Plots sind statistische Analysen von Torsionswinkeln an Aminosäuren, um die Rückgrat-Geometrie von Enzymen zu analysieren.
Seite Energie
02-19
Rotamere von Ethan
-180 -120 -60 0 60 120 180
ß ~ -120° ß ~ ±0° ß ~ 120° H H H H H H H H H H H H H H H H H H H H H H H H H H H H ß ~ -180° ß ~ -60° ß ~ +60° ß ~ +180°
?E ‡ ~ 13 kJ/mol
anti-periplanar anti-clinal syn-clinal syn-periplanar syn-clinal anti-clinal anti-periplanar trans (-)-gauche cis (+)-gauche trans
Anmerkung: Wasserstoffatome die zur Definition des Torsionswinkels dienen sind orange eingefärbt. Achtung: Die Abbildungen im Vollhardt/Schore zeigen eine falsche Achsenbeschriftung!
ß [ ° ]
ekliptische (ecliptic)
gestaffelte (staggered)
Rotamere
Torsions- Winkel
Seite Energie
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Rotamere von Butan
ß ~ -120° ß ~ ±0° ß ~ 120° CH3 CH3 H3C H H CH3 H H H H H H H H ß ~ -60° ß ~ +60° ?E ‡ ?E ~ 15 kJ/mol ‡ ~ 16 kJ/mol ?E ‡ ~ 12 kJ/mol
-180 -120 -60 0 60 120 180
ß ~ -180° ß ~ +180°
?E ~ 4 kJ/mol
anti-periplanar anti-clinal syn-clinal syn-periplanar syn-clinal anti-clinal anti-periplanar trans (-)-gauche cis (+)-gauche trans
Anmerkung: Die Molekülmodelle wurde der Übersichtlichkeit halber leicht verdreht. Achtung: Die Abbildungen im Vollhardt/Schore zeigen eine falsche Achsenbeschriftung!
ß [ ° ]
ekliptische (ecliptic)
gestaffelte (staggered)
Rotamere
Torsions- Winkel
Seite 02-21
Konformation und Molekülgeometrie
Ethan und Butan (Fortsetzung)
Anmerkung: 1 ps (Picosekunde) = 10 -12 s
? Die Moleküle liegen bevorzugt in den energieärmsten Konformationen (gestaffelte Formen) vor. Die ekliptischen Konformere stellen kurzlebige (< 1 ps) Übergangszustände (Energiemaxima) dar, die beim Übergang der verschiedenen gestaffelten Formeln ineinander durchlaufen werden müssen. ? Die Energiebarrieren der Rotation um die C-C- Bindung liegen bei Methan und Butan mit EA = 12-20 kJ/mol sehr niedrig und können bei Raumtemperatur durch die thermische Bewegung leicht überschritten werden. ? Allgemein gilt, dass bei Raumtemperatur die Rotation um C-C-Einfachbindungen sehr schnell ist (> 109 Rotationen pro Sekunde, insbesondere für Methylgruppen praktisch freie Rotation). ? Die Zick-Zack-Kette ist für Alkane die stabilste Konformation und diese wird auch im Kristallgitter im „gefrorenen“ Zustand eingenommen, in Lösung dagegen ist freie Rotation möglich. ? Im Fall von Butan liegen ca. 80% trans neben 20% gauche-Konformationen im thermischen Gleichgewicht bei Raumtemperatur vor.
Energie-Profile: Thermodynamik und Kinetik
? Stabile oder meta-stabile (isolierbare oder beobachtbare) Zustände stellen Energieminima entlang einer (beliebigen) Reaktionskoordinate dar. ? Energiemaxima entsprechen den Übergangszuständen (nicht isolierbar, da ein Barriere freier Übergang in einen stabilen Zustand erfolgen kann). ? Die Energiebarrieren entsprechen den Aktivierungsenergien von Reaktionen oder Umlagerungen. ? Durch die thermische Energie sind Reaktionen mit Aktivierungsenergien von < 100 kJ/mol bei Raumtemperatur schnell, Prozesse werden umso langsamer je höher die (höchste) Barriere ist.
Energie
Zustand A
Rückreaktion
Aktivierungs- Energie E A
Energieunterschied ?G
Übergangszustand
Hinreaktion
?G = - R T ln K
Zustand B
Seite 02-22
Cycloalkane
Allgemein
Die physikalisch-chemischen Eigenschaften der Cycloalkane sind im allgemeinen ähnlich zu denen der Alkane, jedoch ist die Reaktivität insbesondere der kleinen Ringsysteme (Cyclopropan, Cyclobutan) durch die Ringspannung höher als die der entsprechenden Alkane. Man unterscheidet kleine (n = 3, 4), normale (n = 5, 6, 7), mittlere (n = 8- 12) und große Ringsystemen (n = 13). Die Einteilung ist nicht ganz beliebig, sondern folgt den (aus Verbrennungsenthalphien bestimmten) Spannungsenergien der Ringe. Von Cyclopropan und Cyclobutan nimmt diese drastisch ab (Cyclohexan ist spannungsfrei), um danach wieder anzusteigen. Große Ringe wiederum sind ebenfalls spannungsfrei. Die gefundenen Ringspannungen drücken sich in der Reaktivität der Cycloalkane aus: So lassen sich Cyclopropan und Cyclobutan durch katalytische Hydrierung (siehe unten) in die offenkettigen Alkane überführen (leichte C-C-Bindungsspaltung). Analog bereitet insbesondere die Synthese mittlerer Ringsysteme z.T. erhebliche Probleme infolge der aufzubauenden Spannungsenergie im Ringschluss. Der Verlauf der Spannungsenergien wird durch die Baeyer-Spannung (Winkelspannung) und Pfitzer-Spannung (ekliptische Spannung) beschrieben.
Propan
Butan
Hydrierung
Hydrierung
keine Reaktion
keine Reaktion
Cyclopropan
Cyclobutan
Hydrierung
Hydrierung
Spannungsenergie (kj/mol)
Propan
Butan
klein
Allgemeine Summenformel
normal
Struktur
(CH 2) n
Ringspannung (gesamt) Ringspannung (pro CH 2 )
mittel
0 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Ringgröße (n)
groß
katalytische Hydrierung der kleinen Ringsysteme erfolgt unter C-C-Bindungsbruch
Seite 02-23
Kleine Ringsysteme: Cyclopropan und Cyclobutan
Cyclopropan
Alle C-Atome: Bindungswinkel:
Bindungsenergie:
Cyclobutan
C-H: 109 pm C-C: 151 pm
115°
Abb.: © Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005.
Newman-Projektion
Blickrichtung
sp 3-Hybridisierung 60° (gleichseitiges Dreieck) Abweichung vom idealen Tetraederwinkel 109,5° 272 kJ/mol pro C-C-Bindung ("normale" C-C-Bindungen: ~ 350 kJ/mol)
HH Ringspannung (Baeyer-Spannung)
ß ~ -120°
ekliptische Spannung (Pfitzer-Spannung)
Bindungssituation
sp 3
sp 3
Achse der Orbitale fällt nicht mit der C-C-Achse zusammen Elektronendichte außerhalb der scheinbaren Bindung "gebogene" Bindungen ("Bananenbindung")
Bindungssituation ähnlich zu Cyclopropan ? hohe Ringspannung (Baeyer) und ekliptische Spannung (Pfitzer). Spannungsenergie wird z.T. abgebaut durch Faltung des Rings ? 2 Konformationen die sich durch schnelles Umklappen ineinander umwandeln (Ring-Inversion durch gleichzeitige Drehung aller C-C-Einfachbindungen ? thermisches Gleichgewicht).
Faltung ~ 26° nach "oben"
Konformer 1
planar
Übergangszustand (Energiemaximum)
Konformer 2
Faltung ~ 26° nach "unten"
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Normale Ringsysteme: Cyclopentan
Cyclopentan
Trotz des fast idealen Tetraederwinkels von regulären Fünfecken (108° vs. 109.5°) ist Cyclopentan nicht planar, sondern gefaltet (engl.: puckered) da sich nur auf diesem Weg die starke Pfitzer-Spannung abbauen kann, Cyclopentan ist sehr stabil, und es existieren zwei energetisch fast identische Hauptkonformationen („Halbsesssel“ und „Briefumschlag“): Hauptkonformationen H H Abbau der Spannung H H H H H durch Ringfaltung H H H H H H H H H H H H H H H H H H H C H H 5H H 10
ekliptische Spannung (Pfitzer-Spannung)
108° (planar, gleichseitiges Fünfeck) ? fast idealer Tetraeder-Winkel
Halbsessel (half-chair, twist-boat)
Ebene aus 3 Atomen + 1 Atom überhalb und 1 Atom unterhalb
Die Umlagerung zwischen den Konformationen erfolgt sehr schnell, da hier kein planarer Übergangszustand durchlaufen werden muss (Pfeile zeigen die Richtung an, in der sich die Atome bewegen müssen, insgesamt wäre nach 20 – warum? – Konformationen wieder der Ausgangszustand erreicht)*:
Briefumschlag Halbsessel Briefumschlag Halbsessel Briefumschlag
Briefumschlag (envelope)
Ebene aus 4 Atomen + 1 Atom überhalb oder 1 Atom unterhalb
* Der Umlagerungsprozess ist vergleichbar mit einer stehenden Welle die um den Ring herumläuft: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/reactions/index7.html#pseudorotation5
usw.
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Normale Ringsysteme: Cyclohexan
Cyclohexan
relative Energie:
Hauptkonformation
Sessel (chair)
Twist-Boot (twist-boat)
0.0 kJ/mol +23 kJ/mol
(Bezugspunkt) steigende Energie
Nebenkonformationen
Boot (boat)
+30 kJ/mol
Analog zum Cyclopentan (und allen Cycloalkanen außer Cyclopropan) ist Cyclohexan nicht planar, sondern es existieren eine Reihe von Ringgeometrien, von denen die Sesselform die stabilste ist:
H-Atome H H H H H Barriere EA ~ +45 kJ/mol H H H Blick H 6 equatoriale H-Atome H H H H H H Blick H H H H Sessel "Anti"-Sessel
Halbsessel (half-chair)
+45 kJ/mol
(nur ÜZ)
* Animationen für die Sessel – „Anti“-Sessel Konformations-Umlagerung finden sich unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/reactions/index7.html#pseudorotation6
(H 2C) 4
HH H H H H
Blick
sterische Abstoßung (1,4-Wechselwirkung)
ekliptische Spannung (Pfitzer-Spannung)
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Normale Ringsysteme: Cyclohexan
Sessel- und Boot-Konformation
Die perspektivischen Formeln und Newman-Projektionen auf der vorherigen Seite zeigen folgendes: ? Durch die ekliptische Anordnung der Substituenten (H-Atome) am Ring ist die Boot-Konformation energiereicher als die Sessel-Form. Hinzu kommt noch eine starke sterische Abstoßung zwischen den Protonen an den zwei „Spitzen“ des Bootes (repulsive 1,4-Wechselwirkung, Positionen 1 und 4 im Ring). Für Cyclohexan ist die Boot- Form um ca. +45 kJ/mol instabiler als die Sesselform (im thermischen Konformations-Gleichgewicht von Cyclohexan spielt sie keine Rolle außer als kurzzeitig durchlaufene Geometrie bei der Umwandlung der Sesselformen ineinander).* ? Die Sesselform zeigt nur gestaffelte Anordnungen entlang aller C-C-Bindungen im Ring (nachprüfen!), sie ist damit die stabilste Konformation von Cyclohexan und nahezu spannungsfrei. ? Durch gleichzeitige Rotation von mehreren C-C-Einfachbindungen im Ring kann die Sesselform in einen entgegengesetzt gefalteten Sessel („Anti“-Sessel) „umklappen (die Bezeichnungen Sessel und „Anti“-Sessel sind willkürlich gewählt), im Fall von Cyclohexan haben beide Formen die exakt gleiche Energie. Die Energiebarriere (+45 kJ/mol) für diesen Prozess ist niedrig, und jedes Cyclohexan-Molekül „klappt“ bei Raumtemperatur ca. 100.000 mal pro Sekunde um. ? Das „Umklappen“ der Sessel-Konformationen führt zu einem Austausch der axialen und equatorialen Positionen am Ring. Für Cyclohexan selbst sind beide Geometrien „entartet“, d.h. nicht unterscheidbar, für substituierte Cyclohexan-Derivate (hier: Beispiel Methylcyclcohexan) gilt dies allerdings nicht mehr: H H H H H Sessel Austausch der axialen und equatorialen Positionen "Anti"-Sessel H2C H2C H2 C C H2 H H H H CH3 H H H Blick equatorial CH3 H H H H H H H H H H H H H H CH3 Blick H2C H2C H2 C C H2 H H CH3 H H 1,3-diaxiale Wechselwirkungen
axial
* Twist-Boot, Boot und Halbsessel-Konformationen spielen nur für Cyclohexan-Derivate eine große Rolle, da Modifikationen am Ring auch die Molekülgeometrie deutlich beeinflussen können.
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Normale Ringsysteme: Cyclohexan
Energiediagramm der Konformationen
Abb.: © Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005.
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Normale Ringsysteme: Cyclohexan
Sessel- und „Anti“-Sessel-Konformation
Erinnerung:
Gleichgewicht
-H (Cyclohexan) -Me (= -CH 3) -t Bu (= -C(CH 3) 3)
?G [kJ/mol]
0.0 7.3 ~ 21
Gleichgewichtskonstante Boltzmann-Gesetz K = cB -?G / (R T) K = e
K [-]
1 19 ~ 3000
?G > 0: endergone Reaktion Gleichgewicht liegt auf der Seite von A ?G < 0: exergone Reaktion Gleichgewicht liegt auf der Seite von B (wenn sich bei Reaktionen die Teilchenzahl nicht ändert kann in erster Näherung mit ?G ˜ ?H gerechnet werden, ansonsten gilt ?G = ?H - T ?S)
% equatorial
50 95 > 99.9 (!) konformativer "Anker" tert-Butyl
ci R T
Konzentrationen [mol / l] Avogardo-Konstante 8.314 J / mol / K abs. Temperatur [K]
3 H H
Das Konformations-Gleichgewicht substituierter Cyclohexan-Derivate ist von folgenden Wechselwirkungen bestimmt*: ? Wie auch schon aus den Newman-Projektionen auf den vorangegangen Seiten ersichtlich, sind equatoriale Positionen in der Sesselform gegenüber axialen sterisch weniger „gehindert“. Insbesondere die Wechselwirkungen eines axialen Ringsubstituenten mit den H-Atomen (oder anderen eventuell vorhandenen Substituenten) in Position 3 (bzw. 3‘) führen zu einem Anstieg der Energie. ? Da beide Sesselformen in der Regel ineinander „umklappen“ können, wird im thermischen Gleichgewicht die energetisch stabilere Form dominieren.
A B A B
Beispiel: ?G = +10 kJ/mol (A günstiger als B) ? bei 25°C (300 K) liegen ca. 98% A neben nur 2% B im Gleichgewicht vor!
? Je größer ein Substituent ist (z.B. –Me < -Et < -iPr < -tBu) , desto stärker dominieren die 1,3-diaxialen Wechselwirkungen das Konformations-Gleichgewicht, und umso mehr liegt das Gleichgewicht auf der Seite der equatorialen Orientierung des Substituenten. equatorial
1,3-diaxiale Wechselwirkungen
* Warum diskutieren wir das? Kohlenhydrate (Zucker) sind 6-Ringsysteme! Steroide auch …
axial
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Konstitution und Konfiguration
Mehrfach-substituierte Ringsysteme – Konstitution
Im Fall von mehrfach-substituierten Ringsystemen kommt es immer zum Auftreten von verschiedenen Konstitutions- Isomeren (unterschiedliche Verknüpfungen bei gleicher Summenformel, siehe Begriffsdefinitionen weiter vorne in diesem Kapitel), hier am Beispiel von Dimethylcyclohexan:*
Konstitutions-Isomere
1 1 1 2 A: B: C: D: 3
1,1-Dimethylcyclohexan
1,2-Dimethylcyclohexan
Mehrfach-substituierte Ringsysteme – Konfiguration
* Gibt es noch weiter Konstitutions-Isomere gleicher Summenformel? ** Im Fall von B und C, nicht aber bei D, sind es sogar drei Isomere, aber dazu später mehr …
1,3-Dimethylcyclohexan
In den oben gezeigten Fällen B, C, und D tritt noch eine weitere Schwierigkeit – die Anordnung der Substituenten am Ring relativ zueinander – auf. Zwei Substituenten können auf der „gleichen“ (cis), oder auf „gegenüberliegenden“ (trans) Seiten eines Rings stehen, so dass für diese Verbindungen jeweils zwei Konfigurations-Isomere beobachtet werden:** B: C: D:
Konfigurations-Isomere C8H16 CH 3
1,2-Dimethylcyclohexan
cis- trans- cis- trans- cistrans- CH 3
1,3-Dimethylcyclohexan
1,4-Dimethylcyclohexan
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Disubstituierte Cyclohexan-Derivate
Mit Wissen der konformativen Eigenschaften von Cyclohexan (Sesselformen) lässt sich nun bestimmen, wie die isomeren 1,2-Dimethylcyclohexane aussehen müssen:
cis-
trans-
1,2-Dimethylcyclohexan
1 2 H
1x ax. + 1x eq. H 1,3-diaxiale H Wechselwirkungen
Liegen verschiedene Substituenten am Sessel-Ring vor, so nimmt in aller Regel die größere der Gruppen eine equatoriale Position ein.
Der oben angeführte Typus der Konfigurations-Isomerie von Cyclohexan-Derivaten ist nur ein Fall der Stereochemie, weitere werden folgen.
2x eq.
?G = 0.0 kJ/mol 1 : 1
?G ~ 8.0 kJ/mol 98 : 2
2x ax.
axial
axial
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Konstitution, Konfiguration und Konformation
Vergleich von Konstitution, Konfiguration und Konformation
? Konstitution Beschreibung der Atomtypen + Verknüpfungsart, keine Aussage über Stereochemie oder Molekülgeometrie. ? Konfiguration Räumliche (stereochemische) Beschreibung der Verknüpfung aller Atome und Gruppen in einem Molekül. Die Konfiguration macht noch keinerlei Aussage über die wirklich vorliegende Molekülgeometrie und dessen Gestalt. Die Konstitution muss aber bekannt sein, bevor die Konfiguration bestimmt werden kann. Wichtig ist, dass Konfigurations-Isomere nur auftreten können, wenn diese sich nicht durch Drehung um Einfachbindungen ineinander überführen lassen (oder wenn die Drehung um entsprechende Einfachbindungen bei einer bestimmten Temperatur so stark gehindert ist, dass sich die Isomeren trennen und analysieren lassen). ? Konformation Definition der exakten räumlichen Anordnung von Atomen und der genauen Geometrie von Molekülen, Konstitution und Konfiguration müssen bekannt sein, bevor man die Konformation diskutieren kann. [Man kann es auch quantenmechanisch sehen: Um ein Molekül exakt zu definieren, müssen lediglich alle Atomsorten (Elemente), X, Y, Z-Koordinaten aller Atome, Gesamtladung des Moleküls und Spinzustand bekannt sein. Das wird aber noch viel unübersichtlicher – daher verwenden wir Konstitutions- und Konfigurations-Formeln.]
Konstitution Konfiguration Konformation
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Mittlere und Große Ringsysteme
Mittlere Ringsysteme
Die komplexen konformativen Gleichgewichte von Cycloalkanen mittlerer Ringgröße (n ~ 7 - 12) sind geprägt von Baeyer-Winkelspannungen, ekliptischen (Pfitzer) Spannungen und transannularen („über den Ring hinweg“) Wechselwirkungen; all diese Strukturen weisen höhere Spannungsenergien als Cyclohexan auf und die Synthese von Ringen dieser Größe bereitet z.T. erhebliche Schwierigkeiten. Ringe dieser Größe weisen im Vergleich zu fünf- und
sechsgliedrigen Ringen eine deutliche geringere Verbreitung in natürlichen System auf.
C7H14 C8H16 C9H18 C10H … 20 usw.
Große Ringsysteme
ekliptische Spannung
Winkel- Spannungen
HH H Cycloheptan
transannulare Spannungen
Erst wieder bei größeren Ringsystemen (n = 13) sind fast spannungsfreie Ringgeometrien möglich, in denen die Kohlenstoffketten reguläre Zick-Zack-Konformationen annehmen können; die Eigenschaften der Ringe sind ähnlich denen der offenkettigen Alkane, ihre Synthese ist jedoch nicht ganz trivial. Ein Beispiele aus der Natur ist das bereits erwähnte Muscon (ein Cyclopentadecan-Derivat), ein Bestandteil des Moschus-Duftes.
Muscon Moschus Keton, 3-Methylcyclopentadecanon
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Polycyclische Ringsysteme
Polycyclische Ringsysteme*
Die Zusammenstellung zeigt nur eine sehr kleine Auswahl an polycyclischen Kohlenwasserstoffen, die synthetisch zugänglich sind. Neben der „Beauty of chemical structures“ zeigen sie die unglaublichen Möglichkeiten von Kohlenstoff, eine fast unbegrenzte Vielfalt an Ringen auszubilden. Obwohl die meisten dieser Beispiele von akademischen Interesse sind, haben Adamantan-Derivate einen gewissen synthetischen Nutzen, da ihr sterischer Anspruch den von tert-Butyl-Resten noch übersteigt. Norbornan bildet das Grundgerüst von Campher („Nor“ = keine Methylgr. tragend).
Spiro-Ringsysteme*
Spiro[2.2]pentan Spiro[2.5]octan
Nur erwähnt sei hier die Klasse spiro-anellierter Ringsysteme, die dadurch gekennzeichnet sind, dass zwei Ringsysteme über exakt ein einziges Kohlenstoffatom Propeller-artig verknüpft sind: 5 4 4 1 1 3 6 3
Norbornan
Tetraasteran [2,2,2]Bicyclooctan "Doppel" Tetraasteran
Tetrahedran (als tBu-Derivat)
Adamantan Diamantan Twistan
[1.1.1.1]- Pagodan
Cuban Dodecahedran
Diademan
[1.1.1]- Propellan
Spiro[3.5]nonan Spiro[4.4]nonan Spiro[4.5]decan Spiro[5.5]undecan
* Computermodelle dieser Strukturen lassen sich unter der folgenden Adresse erhalten: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/structures/
Pentaprisman Diasteran
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Polykondensierte Ringsysteme
Decalin Derivate
cis-Decalin
trans-Decalin
axial
equatorial
konformative Flexibilität
axial
Nicht nur akademisches Interesse besitzen die zwei Konfigurations-Isomere des Decalins, da die cis- und trans-Form eine sehr unterschiedliche Flexibilität des Molekülgerüsts zeigen:
Steroide
equatorial H H equatorial equatorial konformative axial Die Kette Rigidität ist zu kurz!
Steroide sind Naturstoffe die eine sehr rigide tetra-cyclische Grundstruktur mit Decalin Einheiten aufweisen:
COOH
HO H H OH
Cholsäure (in der Gallenflüssigkeit)
axial
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Polykondensierte Ringsysteme
cis-Decalin trans-Decalin
Cholsäure Androsteron
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Fünf- und Sechs-Ringe in der Natur: Kohlenhydrate
Kohlenhydrate
Im weiten Sinne lassen sich die Molekülgeometrien von Kohlenhydraten mit den konformativen Eigenschaften von Cyclopentan- und Cyclohexan-Derivaten vergleichen – auch wenn hier eine Methylen-Gruppe (-CH 2 -) im Ring durch einen Sauerstoff (-O-) ersetzt werden muss, sind die vorherrschenden Konformationen sehr ähnlich. So stellen die verschiedenen Monosaccharide (siehe späteres Kapitel) Konfigurations- Isomere mehrfach substituierter Fünf- und Sechs-Ringe dar (bemerkenswert ist, dass nur geringe Unterschiede zu völlig verschiedenen physiologischen Wirkungen führen, z.B. ist Mannose deutlich weniger süß als Glucose!):
Konfigurationsformel
Konformationsformel
HO OH
HO HO
HO OH
HO OH
HO OH
ß-D-Glucofuranose (eine andere Form der Glucose)
HO OH
HO OH a-D-Altrose
HO OH
HO O HO OH
HO ß-D-Fructofuranose (eine Form der Fructose)
HO OH
HO OH OH a-D-Galactose (aus Malzzucker)
Anmerkung: Beurteilen Sie aus den angegebenen Formeln, welche der Sechs-Ring Strukturen die höchste konformative Flexibilität aufweist und begründen Sie Ihren Vorschlag!
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Reaktionen der Alkane und Cycloalkane
Reaktivität
Da es sich bei Alkanen um sehr apolare Verbindungen handelt, ist ihre Reaktivität sehr gering (aus diesem Grund eignen sie sich als „inerte“ Lösungsmittel in der Organischen Chemie).
allgemein: C nH m
Trivial, drastisch, aber die am häufigsten genutzte Reaktion der Alkane, ist die Verbrennung (Erdgas, Erdöl):
unpolare C-C und C-H Bindungen
keine Reaktion mit: Säuren (H + ) Basen (OH- ) H
n CO 2
m /2 H 2O
Aber auch diese Reaktion läuft bei Raumtemperatur nicht spontan ab, obwohl sie sehr stark exotherm und exergon (d.h. ?G << 0) ist. Grund ist die chemische Inertheit aller Alkane, die Reaktion benötigt eine sehr hohe Aktivierungsenergie. Ist diese einmal geliefert (Zündfunke), so produziert die Reaktion genug Energie um sich selbst zu unterhalten (autokatalytische Explosion oder kontrollierte Verbrennung). Alkane selbst sind bei Raumtemperatur in Gegenwart von Sauerstoff nur metastabil.*
EN H = 2.2
EN C = 2.6
kein heterolytischer Bindungsbruch
Energie
Verbrennungs- Energie
bei Raumtemp. keine spontane Reaktion
* Metastabile Zustände treten dann auf, wenn eine Reaktion energetisch zwar günstig sein sollte, aber nicht (oder viel zu langsam) abläuft weil die Aktivierungsbarriere (Kinetik!) zu hoch ist.
kleine Dipolmomente (µ) der C-H-Bindungen
µ total = 0.0 Debye
CO 2 + H 2O
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Radikal-Reaktionen
Radikalische Chlorierung
Licht, h?
Cl 2 Cl
?H = +243 kJ/mol
Radikale entstehen durch homolytischen Bruch kovalenter Bindungen. Als hochreaktive Spezies sind Radikale in der Lage, andere Bindungen anzugreifen und diese wiederum homolytisch zu spalten.
?H = +410 kJ/mol
aber: ? Reaktion mit anderen Radikalen
+ Cl H C
?H = +8 kJ/mol
+ Cl Cl H C
?H = -113 kJ/mol
Radikal (kein Elektronenoktett ? hohe Reaktivität)
+ H homolytischer Bindungsbruch
? C-H-Bindungsenergie (Dissoziationsenergie)
läuft auch nicht "spontan" ab
Die als Kettenträger fungierenden Chlor-Radikale müssen auch erst generiert werden, z.B. durch Bestrahlung mit Licht und photochemische Spaltung von Chlor (Blitzlicht, etc.):
Start einer Kettenreaktion die sich "selbst" unterhält
leicht endothermer Schritt
Überkompensation der aufzubringenden Energie im nachfolgenden Reaktionsschritt
stark exothermer Schritt
stark endothermer Schritt, der aber nur einmal aufzubringen ist, bevor die Kettenreaktion anfängt. ? Im Dunkeln findet keine Reaktion statt !
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Radikalische Chlorierung
Vollständiger Mechanismus:
Kettenstart
Kettenfortpflanzung
Cl 2
Gesamtreaktion: S = CH4 + CH3Cl + Cl2-105 = S (1) + (2)
Kettenabbruch
Cl 2
Darstellung des Mechanismus als Reaktionscyclus:
Cl 2
Cl 2
HCl Cl 2
?H [kJ/mol]
+243
-113
(selten, nur als 3er-Stoß)
(selten)
Ketten- ?H = +8 kJ/mol ?H = -113 kJ/mol reaktion
Kettenstart
Reaktion (1)
Reaktion (2)
Typ des Mechanismus:
Generierung der Radikale (einmalig aufzubringende Aktivierungsenergie)
Reaktionscyclus
Rekombination (Vernichtung) von Radikalen
Gesamtreaktion ohne Mechanismus:
+ Cl 2
- HCl
Ersatz (Substitution) von -H gegen -Cl
radikalische Substitution
Anmerkung: Die insbesondere in der Biochemie übliche Darstellung von Reaktionen als Cyclen hat den Vorteil, dass die Gesamtreaktion (Edukte und Produkte) leicht erkennbar ist.
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Radikalische Chlorierung
Energieprofil und Orbitalmodelle der H-Abstraktion von Methan durch Chlor
Abb.: © Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005.
Orbitalmodell des Methyl-Radikals
Die Hybridisierung des Methyl-Radikals ist sp 2 – das ungepaarte Elektron befindet sich in dem p-Orbital des trigonal-planaren Radikals:
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Radikalische Chlorierung
Haupt- und Nebenprodukte
Als Reaktionsprodukt entsteht bei der radikalischen Chlorierung von Methan vor allem Monochlormethan (Hauptprodukt), neben weiteren, höher substituierten Chlormethanen (Nebenprodukte):
+ Cl 2
- HCl
IUPAC Name: Trivialname:
Chlormethan (Methylchlorid)
Cl C Cl
Dichlormethan (Methylenchlorid)
Cl C Cl
Trichlormethan (Chloroform)
Hauptprodukt Nebenprodukte
Cl C Cl
Tetrachlormethan (Tetrachlorkohlenstoff)
Die exakten relativen Anteile (Selektivitäten) der Reaktionsprodukte (insbesondere der Nebenprodukte) hängen sehr stark von den jeweils gewählten Reaktionsbedingungen ab: Da es sich um Folgereaktionen (schrittweise Substitution, nicht Parallelreaktionen mit gleichzeitiger Substitution) handelt, ist die Monosubstitution bei equimolaren Edukten (Methan : Cl 2 = 1:1) das Hauptprodukt. Die relativen Anteile der Nebenprodukte sind schwer zu kontrollieren. Soll in der Praxis Monochlormethan synthetisiert werden, so arbeitet man mit einem großen Überschuss an Methan (die Zweitsubstitution wird dann unwahrscheinlicher, weil weniger Chlormethan in der Reaktionsmischung ist), trennt anschließend das gewünschte Produkt ab und „recycelt“ nicht umgesetztes Methan (die Trennung ist einfach, weil das Gas Methan einen viel tieferen Siedepunkt hat als Chlormethan). In der Regel werden aber Produktgemische erhalten.
Neben der Abhängigkeit bezüglich der eingesetzten Mengen (d.h. Konzentrationen) hängt die Produktverteilung einer Folgereaktion immer auch von der relativen Geschwindigkeit (Kinetik) der Reaktionen untereinander ab: Wird eine Zweitreaktion deutlich schneller als ein erster Schritt, so kann die Reaktion oft nicht auf einer bestimmten Reaktionsstufe gestoppt werden. In der Praxis hat das oft Auswirkungen auf die Durchführbarkeit von Synthesen!
Seite 02-42
Radikalische Halogenierung – Reaktivität
Vergleich der Reaktivität von Fluor, Chlor, Brom und Iod
Das nebenstehende Diagramm zeigt das schematische (nicht maßstabsgerechte) Energiediagramm für die Halogenierung von Alkanen:
? Für die Fluorierung ist der erste Schritt der Radikalkettenreaktion stark exotherm mit sehr niedriger Aktivierungsbarriere, die Reaktion verläuft mit F2 explosionsartig (auch unter C-C Spaltung). ? Im Fall der Chlorierung ist der erste Schritt leicht endotherm, die Reaktion verläuft langsamer (wie schon ausgeführt, wird dieser „Energieverlust“ durch die nachfolgende Reaktion mehr als kompensiert). ? Für die Bromierung steigt die Aktivierungsbarriere weiter an, die Reaktion wird „schwieriger“ (langsamer, und stärker endotherm). ? Die Iodierung würde im ersten Schritt stark endotherm verlaufen, so dass die Aktivierungsbarriere nicht mehr überwunden werden kann: Die Reaktion läuft nicht mehr ab.
? Die Reaktivität sinkt in der Reihenfolge F 2 >> Cl 2 > Br 2 , die Iodierung mit I 2 ist auf diese Art nicht durchführbar.
R C H
Energie
R = -Alkyl
+ Hal R C
Übergangszustand Edukte Produkte
X = F Cl Br I
Hal = I
Hal = Br
Hal = Cl
Hal = F
Aktivierungsbarriere steigt
Reaktivität sinkt
Die unterschiedliche Reaktivität der Halogene ist Folge der abnehmenden Stabilität der Wasserstoff-Halogen Bindung in der Reihe F > Cl > Br > I .
Seite 02-43
Radikalische Bromierung – Selektivität
Reaktivität und Selektivität
In der Organischen Chemie sind immer zwei Konzepte nebeneinander zu betrachten: Reaktivität und Selektivität. Führt man die Bromierung von 2-Methylpropan (tert-Butan) durch, so beobachtet man folgendes – auf den ersten Blick überraschendes – Ergebnis:
2-Methylpropan (tert-Butan, C 4H 10)
9 equivalente primäre H-Atome
1 tertiäres H-Atom
+ Br 2 / h?
- HBr
1-Brom-2-methylpropan (iso-Butylbromid, C 4H 9Br)
2-Brom-2-methylpropan (tert-Butylbromid, C 4H 9Br)
erwartete Selektivität: 9 : 1
gefundene Selektivität: 1 : 99
BrH primäres Radikal tertiäres Radikal H H H H H und H H H H H H H
(statistische Wichtung)
(Experiment)
Erwartet wird die Bildung der zwei konstitutions-isomeren Brom-2-methylpropane im statischen Gewicht 9 : 1 (entspricht der Anzahl der substituierbaren H-Atome im Edukt; Produktverteilung 90% : 10%), gefunden wird eine Umkehr und Erhöhung der Produktselektivität auf 1 : 99. Offensichtlich wird das tertiäre H-Atom leichter durch Brom substituiert als eines der neun primären H-Atome.*
Um diesen Effekt erklären zu können muss die relative Stabilität der Zwischenstufen analysiert werden, die im Verlauf des Mechanismus durchlaufen werden, in diesem Fall hier die zwei Radikale die im Verlauf des ersten Schrittes der H-Abstraktion entstehen (C-H Bindungsbruch):
* Zur Definition der Begriffe primär, sekundär und tertiär siehe dieses Kapitel, weiter vorne.
Seite 02-44
Radikalische Halogenierung – Stabilität von Radikalen
Radikalstabilität
Abb.: © Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005.
Radikale sind in der Regel sp 2 -hybridisiert, d.h. das ungepaarte Elektron befindet sich in dem p-Orbital, das Radikal selbst ist trigonal-planar. Als Elektronenmangel-Verbindungen (der zentrale Kohlenstoff hat mit nur 7 Elektronen kein vollständiges Oktett) sind sie extrem reaktiv (aber nicht völlig unselektiv). Hyperkonjugation (Abgabe von Elektronendichte) von benachbarten C-H-Bindungen (C sp3-H Bindungen) kann in einem gewissen Umfang dazu beitragen Radikale zu „stabilisieren“ (nichts desto trotz bleiben sie sehr reaktiv, so das mit „Stabilisierung“ nicht wirklich „stabil“ gemeint ist). Dieser Effekt ist nicht möglich im Fall des Methyl-Radikals, steigt aber in der unten gezeigten Reihe mit der Zahl der benachbarten Methyl-Gruppen von Methyl < Ethyl < iso-Propyl < tert-Butyl an.
Radikal Typ:
Die Fähigkeit von Alkylresten, durch Elektronenabgabe Elektronenmangel-Verbindungen (Radikale oder – wie noch zu diskutieren sein wird – Kationen) zu stabilisieren, bezeichnet man als +I-Effekt (elektronenliefernder Induktiver Effekt). Der +I-Effekt steigt in der Reihenfolge H < Methyl < Ethyl < iso-Propyl < tert-Butyl an
* Der –I-Effekt beschreibt den Elektronenabzug durch stark elektronegative Substituenten. Der induktive Effekt wird durch den mesomeren Effekt ergänzt.
Methyl-Radikal Ethyl-Radikal iso-Propyl-Radikal tert-Butyl-Radikal - primär sekundär tertiär
steigende Stabilität
Seite 02-45
Radikalische Halogenierung – Selektivität
Radikal-Stabilität
Die Erklärung für den vorne diskutierten Befund der Bromierung von 2-Methylpropan folgt direkt aus der Diskussion der relativen Radikal-Stabilitäten: Höher substituierte Bromalkane werden bevorzugt gebildet, obwohl die tertiäre Position gegenüber den primären (1.) in der Unterzahl ist und (2.) sterisch deutlich stärker abgeschirmt ist.
Reaktivität und Stabilität
Das nebenstehende – hypothetische – Diagramm zeigt schematisch den Zusammenhang zwischen Reaktivität und Selektivität, unter der Annahme, dass Energieprofile für ähnliche Reaktionen auch einen ähnlichen Verlauf (Skalierung) aufweisen:
? Entscheidend für die relative Reaktivität von zwei Teilchen (hier die Reaktivität von X und Y) ist die Höhe der Aktivierungsbarriere EA : X ist reaktiver als Y. ? Entscheidend für die relative Selektivität (hier die Frage ob das Edukt in Position 1 oder 2 angegriffen wird) ist der jeweilige Aktivierungsbarrieren. Unterschied ?EA der ? Unter der oben gemachten Annahme der „gleichmäßigen“ Skalierung der Energieprofile für ähnliche Reaktionen ergibt sich das Hammond- Postulat:
Je unreaktiver ein Reaktand ist, um so selektiver ist die Reaktion, und umgekehrt.
[Fast ein menschliches Prinzip: je mehr Zeit man hat, um so wählerischer ist man.]
Energie
Übergangszustand Edukte Produkte
* Das Hammond-Postulat hat eine breite Gültigkeit, es gibt aber auch charakteristische Ausnahmen. Häufig (nicht immer) sind diese Ausnahmen in Änderungen des Reaktionsmechanismus begründet.
E A(X)
X: hohe Reaktivität Y: niedrige Reaktivität
E A(Y)
?E A(Y)
?EA(X) H Y Y R 1
R H R* R* R R 2 R* R* X H H R R X R 1 R 2 R* R* R* R*
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Radikalische Halogenierung – Reaktivität und Selektivität
Vergleich der Reaktivität und Selektivität von Fluor, Chlor und Brom
Nach dem Hammond-Postulat gilt für die radikalische Substitution von Alkanen und Cycloalkanen folgendes:
Reaktion
Relative Reaktivitäten der radikalischen Substitution
C-H Bindung Typ F (25°C, g) Cl (25°C, g) Br (150°C, g)
(methyl) primär sekundär tertiär
Fluorierung Chlorierung Bromierung
0.5 1* 1.2 1.4
0.004 1* 4 5
Quelle: Vollhardt/Schore, * Bezugpunkt RCH 2-H = 1.0
fallende Reaktivität
steigende Selektivität
0.002 1* 80 1700
kaum geringe hohe Selektivitäts-Unterschiede