Seite 03-1 Organische Chemie für Biologen - Vom Methan zu Biomolekülen 03 – Stereochemie Empfehlung: Kapitel 5, Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005. Priv.-Doz. Dr. Stefan Immel Universität Leipzig, Wintersemester 2007/2008. Seite 03-2 Stereochemie Historisches Die Chiralität wurde von Louis Pasteur am Molekül der Weinsäure entdeckt. Durch die Racemat- Spaltung eines Salzes der Weinsäure legte und entdeckte Pasteur die Grundlagen der Stereochemie. Pasteur ließ 1847, im Alter von 25 Jahren, eine wässrige Lösung von racemischem Natrium-Ammonium-Tartrat (Tartrat = Salz der Weinsäure) auskristallisieren und trennte daraus mit einer Pinzette einzelne Kristalle aufgrund ihrer asymmetrischen Form („hemihedrale Flächen“). Eine Lösung der Kristalle einer Sorte zeigte optische Aktivität in die eine, die andere in die entgegengesetzte Richtung – das Racemat war in die Enantiomere getrennt. Man zweifelte Pasteurs Arbeit an und er musste sie unter der Aufsicht von Jean Baptiste Biot wiederholen, was gelang. Wie erst viel später bekannt wurde, hatte Pasteur Glück: wäre es im Labor kälter gewesen, wäre der Versuch misslungen. Bei Natrium-Ammonium-Tartrat tritt spontane Spaltung nur oberhalb von etwa 18°C auf (Kristallisation als Konglomerat), darunter wäre nur eine Sorte Kristalle entstanden – die racemische Verbindung. Was sind die molekularen Ursachen dieser Phänomene, deren Entdeckung erfolgte, lange bevor J. H. van‘t Hoff (und zeitgleich Le Bel) sie durch seine bahnbrechende Arbeit über „Die Lagerung der Atome im Raume“ erklären konnte? Und warum sind diese Phänomene für die gesamte Chemie und Biologie von so grundlegender und entscheidender Bedeutung? HOOC Weinsäure COOH Weinsäure-Kristalle Kohlenstoff-Modelle van 't Hoff‘s. Louis Pasteur (1822-1895) Jean B.Biot(1774-1862) * Den ersten Nobelpreis für Chemie 1901 erhielt van‘t Hoff allerdings für die Entdeckung der Gesetze der chemischen Dynamik und des osmotischen Druckes in Lösungen. J. H. van 't Hoff (1852-1911) 1. Nobelpreis Chemie, 1901.* Seite 03-3 Stereochemie Einleitung Im vorherigen Kapitel wurden zwei verschiedene Konstitutions-Isomere des 1,2-Dimethylcyclohexans diskutiert, warum gibt es tatsächlich aber drei verschiedene? Warum sind bei der Bromierung von Propan zwei Produkte zu erwarten, während bei der Bromierung von Butan tatsächlich aber drei Produkte entstehen? Konstitution Konfiguration 1,2-Dimethylcyclohexan + Br 2 - HBr cis- trans- 1,2-Dimethylcyclohexan Propan 2-Brompropan 1-Brompropan + Br 2 - HBr tatsächlich aber 3 Konfigurations-Isomere Butan 2-Brombutan 1-Brombutan Die Ursache des Problems wird deutlich wenn man 2-Brombutan als perspektivische Formel schreibt: 2-Brombutan oder tatsächlich aber 3 Produkte! tatsächlich 2 verschiedene Verbindungen! Seite 03-4 Chiralität Das Phänomen der Chiralität 2-Brombutan 2-Brompropan Br H Spiegelebene (s) Br H = 2 2-Brombutan chiral Spiegelung Spiegelung, nicht identisch Br H Br H = 2 2-Brompropan achiral Spiegelung identisch nach Drehung um 180° identisch Die zwei 2-Brombutan Formeln verhalten sich zueinander wie Bild und Spiegelbild, sie haben zwar die gleiche Konstitution (gleiche Elemente und Bindungen), aber unterschiedliche Konfigurationen (3D-Anordnung der Atome): Alle Moleküle, die sich nicht mit ihrem Spiegelbild durch einfache Translation oder Rotation, oder Drehung ausschließlich um Einfachbindungen zur Deckung bringen lassen bezeichnet man als „chiral“ (griech.: chiros, „Hand“). Ein Paar solcher Verbindungen, die sich zueinander verhalten wie Bild und Spiegelbild bildet ein Paar Enantiomere (griech.: enantios, „entgegengesetzt“; zu jedem Enantiomer gehört jeweils exakt ein „entgegengesetztes“ Enantiomer, d.h. ein Spiegelbild, das nicht identisch ist). Liegen solche Verbindungen als exaktes 1:1 Gemisch vor, so bezeichnet man dieses als Racemat (oder racemisches Gemisch), ansonsten spricht man von „enantiomerenreinen“ (100% eine Form) oder „enantiomer angereicherten“ Verbindungen (Verhältnisse ? 50% : 50% oder 100% : 0%). Alle anderen Verbindungen, deren Bild und Spiegelbild identisch (deckungsgleich) sind, oder die durch Rotation und Translation, oder Drehung um Einfachbindungen zur Deckung gebracht werden können, bezeichnet man als „achiral“. * Überzeugen Sie sich davon an zwei Modellen für diese Verbindung! Seite 03-5 Chiralität Chiralität der Natur – Hände und Helices Chiralität* (Händigkeit) * griech.: chiros, „Hand“. Weinbergschnecken 20,000 : 1 Treppen DNA Proteine Seite 03-6 Chiralität Chiralität der Natur – Knoten, Bänder und Kristalle Knoten Möbius-Bänder Quarz-Kristalle Seite 03-7 Chiralität Voraussetzungen für Chiralität Bild (Enantiomer A) Spiegelung Spiegelung, nicht identisch Spiegelbild (Enantiomer A*) chiral Die Grundvoraussetzung für das Vorliegen der Chiralität einer Verbindung ist, das dieses Molekül selbst keine Spiegelebene und kein Inversionszentrum besitzt.* Das einfachstes Erkennungsmerkmal für Chiralität ist das vorliegen eines sp 3 -hybridisierten (tetraedrischen) Kohlenstoff-Atoms, das vier verschiedene Substituenten trägt. Dieses Kohlenstoffatom wird oft mit einem Stern „*“ markiert und als Chiralitätszentrum, Asymmetriezentrum, oder asymmetrisch-substituiertes C-Atom bezeichnet (die Bezeichnung wird oft fälschlicherweise als „asymmetrisches C- Atom“ abgekürzt, aber: ein Atom ist nicht „asymmetrisch“, höchstens „asymmetrisch substituiert“!). Enantiomere haben: ? gleiche physikalische und chemische (Einschränkung: in achiraler Umgebung) Eigenschaften. ? den gleichen Schmelz- und Siedepunkt, gleiche Dichte, Löslichkeit, Dipolmoment, etc. ? gleiche spektroskopische Eigenschaften, mit einer Ausnahme: ? unterschiedliche Optische Aktivität gegenüber polarisiertem Licht. Optische Aktivität Unter der optischen Aktivität einer Verbindung versteht man ihre Fähigkeit, die Polarisations- Ebene von linear polarisiertem Licht in eine Richtung zu drehen. Chirale Verbindungen sind daher „optisch aktiv“. Bild (linke Hand) Spiegelbild (rechte Hand) Chiralität (Händigkeit) * Die exakte Definition ist: ein Molekül darf keine Dreh-Spiegel-Achse besitzen, diese schließen die häufigsten Fälle Spiegelebene + Inversionszentrum, sind aber komplizierter (siehe Anhang). Seite 03-8 Optische Aktivität Blick in Strahlrichtung: Der gemessene Drehwert hängt ab von: ? Länge der Messzelle ? Konzentration der Probe ? Wellenlänge des Lichtes ? Temperatur ? Lösungsmittel chirale Probe 25 Standardisierung als spezifische Drehung: [a] D ? Küvettenlänge l in [ dm = 10 cm ] ? Konzentration c in [ g / ml ] ? Licht bei ? = 589 nm (gelbe Natrium D-Linie) ? Messung hier bei 25°C (alternativ oft auch 20°C) ? Angabe von Lösungsmittel und Konzentration beobachteter Drehwinkel a Spezifischer Drehwert: 25 [a] = D a gemessen l • c Licht ist elektromagnetische Strahlung, bei der ein elektrischer und ein magnetischer Feldvektor senkrecht zu einander schwingen. In „normalem“ Licht schwingen diese Lichtwellen in allen möglichen Ebenen gleichmäßig verteilt. Von „linear polarisiertem“ Licht spricht man, wenn alle elektrischen Feldvektoren nur noch entlang einer Ebene schwingen. Beobachtet man durch einen Polarisationsfilter erzeugtes linear polarisiertes Licht nach dem Durchlaufen einer Messzelle mit einer optisch aktiven (chiralen) Substanz, so stellt man eine Verdrehung der Polarisationsebene gegenüber der ursprünglichen Polarisationsrichtung fest: Blick gegen Strahlrichtung (Vollhardt/Schore) Vorzeichen-Konvention: Drehung im Uhrzeigersinn: positiv Drehung gegen Uhrzeiger: negativ Einheit des Drehwerts: [ ° cm 2 / g] Seite 03-9 Optische Aktivität Spezifischer Drehwert Der nach der oben genannten Formel berechnete spezifische Drehwert (engl.: „specific optical rotation“) ist eine charakteristische Stoffkonstante, die zur exakten Beschreibung (Charakterisierung) chiraler Substanzen in Experimentalvorschriften oder in den „Stereochemical Abstracts“ vieler Journale angegeben werden muss: A. Benz, S. Immel, F. W. Lichtenthaler* AcO AcO AcO OMe O AcNH Br 2-C-Acetamido-3,4,6-tri-O-acetyl-2-O-methyl-a-D-mannopyranosyl bromide Tetrahedron: Asymmetry 20 a ] = + 141 (c 1.8, CHCl3) Source of chirality: D-glucose A. Benz, S. Immel, F. W. Lichtenthaler* AcO AcO AcO OEt O AcNH Br 2-C-Acetamido-3,4,6-tri-O-acetyl-2-O-ethyl-a-D-mannopyranosyl bromide Tetrahedron: Asymmetry 20 a ] = + 127 (c 0.9, CHCl3) Source of chirality: D-glucose Die Standard-Einheiten des spezifischen Drehwertes (° cm2 / g) werden häufig weggelassen, die Notation lässt Messtemperatur (hier 20°C) und Wellenlänge des Lichtes (Natrium D-Linie) explizit erkennen, die Angabe der Messkonzentration (c in g / ml) und des zur Messung verwendeten Lösungsmittels sind Pflicht (werden aber z.B. im Vollhardt/Schore oft – aus Nachlässigkeit – einfach weggelassen). Wichtig ist: Aus der Struktur eines Moleküls lässt sich NICHT auf das Vorzeichen des spezifischen Drehwertes, und auch NICHT auf dessen absolute Größe schließen. Lediglich eine Schlussfolgerung MUSS gelten: Enantiomere Verbindungen haben exakt den gleichen absoluten spezifischen Drehwert, aber mit entgegengesetztem Vorzeichen. Welches Enantiomere welches Vorzeichen aufweist ist aus Formeln NICHT erkennbar, aber oft wird der experimentell bestimmte Drehsinn (das Vorzeichen) durch ein „(+)“- oder „(–)“-Namenspräfix explizit angegeben:* 25 [a] D Br H Enantiomere Br H (-)-2-Brombutan (+)-2-Brombutan Vorzeichenwechsel -23.1 +23.1 H2N H3C H (+)-Alanin +8.5 COOH H3C HO COOH (-)-Milchsäure -3.8 Seite (+) (+) (+) (-) 03-10 Optische Aktivität Optische Reinheit 100% 50% 50% 3:1 Mischung (+) (+) + (+) (-) reines (+) Enantiomer 1:1 Mischung (Racemat) Drehwert = 0° gemessener Drehwert entspricht 50% des Drehwertes des reinen (+)-Enantiomeren (+) (+) (+) (-) Chirale Verbindungen sind optisch aktiv – in enantiomeren reiner Form (d.h. wenn nur eine der beiden Formen wirklich vorliegt) drehen sie die Ebene polarisierten Lichts um einen gewissen Betrag in die eine oder andere Richtung. Achirale Verbindung sind optisch inaktiv – sie drehen die Polarisationsebene von Licht nicht! Das gleiche gilt für Racemate, also für Substanzgemische in denen zwei entgegengesetzte Enantiomere exakt im Verhältnis 1:1 vorliegen: hier hebt sich der Effekt der Rechtsdrehung des einen Enantiomers durch die Linksdrehung des anderen auf – da beide Effekte die gleiche Größe, aber entgegengesetztes Vorzeichen haben, ergibt sich in der Summe kein Dreheffekt. Aus der Messung des Drehwertes alleine kann man NICHT zwischen einer achiralen Verbindung und dem Vorliegen einen Racemats unterscheiden. Br H 2-Brompropan achiral, daher keine optische Aktivität und kein Drehwert Br H Br H (-)-2-Brombutan (+)-2-Brombutan 1:1 Mischung (Racemat) chiral, aber keine messbare optische Aktivität und kein Drehwert Umgekehrt gilt aber auch: je reiner eine bestimmte Form einer chiralen Verbindung ist, umso höher ist der (absolute) Betrag des Drehwertes, daher ist die Angabe des gemessenen Drehwertes zur Charakterisierung einer Substanz gleichbedeutend mit ihrer Reinheit, man spricht auch von optischer Reinheit (engl.: „optical purity“), oder von einem Enantiomeren-Überschuss (engl.: „enantiomeric excess“). Gesamtanteile (Summe 100%) 75% 25% 3:1 Mischung 50% Überschuss von (+) gegenüber (-) = Enantiomeren-Überschuss von 50% Seite 03-11 Optische Aktivität Enantiomeren-Überschuss Der quantitative Zusammenhang zwischen Enantiomeren-Überschuss und gemessenem Drehwert ist unten angegeben. Bei bekannten Drehwerten der reinen Enantiomere kann man so schnell (der Drehwert ist eine einfach zu messende Größe) und zuverlässig den Enantiomeren-Überschuss (ee) und damit die Reinheit einer Mischung bestimmen: 25 25 [a] (gemessen) = [a] (reines Überschuss-Enantiomer) • D D "enantiomeric excess" (Enantiomeren-Überschuss) ee % 100% ee % = Anteil(Überschuss-Enantiomer) % - Anteil(Unterschuss-Enantiomer) % c(+) - c(-) c(+) + c(-) mit: c(+) : Konzentration Überschuss-Enantiomer c(-) : Konzentration Unterschuss-Enantiomer ee Anteile [%] (+) [%] (-) [%] Ein Anwendungs-Beispiel stellt die in der Biochemie häufig wiederkehrende Messung von Enzym-Kinetiken dar: Enzyme „verdauen“ häufig nur eines von zwei Enantiomeren (für den Grund hierfür siehe unten!). Durch Verfolgung des Drehwertes mit der Zeit kann man den Verlauf (und damit die Geschwindigkeit) einer Enzymreaktion leicht bestimmen. 25 [a] (t) D Grenzwert reines Enantiomer A Enzym-Kinetik (Reaktionsgeschwindigkeit) Zeit t Enantiomere A und A* Enzym 0 50 90 99 100 50 75 95 99.5 100 50 25 5 0.5 0 nicht "verdaut", unverändert optisch inaktives Abbauprodukt Seite 03-12 Absolute Konfiguration Zufall oder Glück? Die Struktur eines Moleküls lässt keine Rückschlüsse auf den spezifischen Drehwert zu, und umgekehrt kann nicht von dem Drehwert oder dessen Vorzeichen auf die Struktur geschlossen werden (siehe unten die Milchsäure und ihr Salz)* –die absolute Konfiguration an einem asymmetrisch substituierten Kohlenstoffatom zuverlässig zu bestimmen kann auch heute noch ein sehr ernsthaftes experimentelles Problem darstellen. Ursprünglich willkürlich festgelegt (geraten) wurde daher die absolute Anordnung der Substituenten für Glycerinaldehyd: in der Fischer-Projektion (E. Fischer, siehe unten) wurde willkürlich festgelegt, das die linksdrehende Form (–)-Glycerinaldehyd die L-Konfiguration (L von lat.: laevus, „links“) besitzt, während der rechtsdrehenden Form (+)-Glycerinaldehyd die D-Konfiguration (D von lat.: dexter, „rechts“) zugeschrieben wurde. H H + NaOH * HOOC OH - H Na 2O OOC (-)-Milchsäure [a] = -8.3 D (+)-Natriumlactat 25 [a] = +13.5 D Fischer-Projektion: Moderne Formeln: (Lactat = Salz der Milchsäure) Drehwert ändert sich obwohl das Chiralitätszentrum unverändert bleibt! Erst 1951 konnte mittels anormaler Röntgendispersion (Bijvoet) nachgewiesen werden, dass die willkürliche Zuordnung korrekt war, und dass diese mit der tatsächlich vorliegenden Konfiguration von Glycerinaldehyd übereinstimmt! einfache Salzbildung Glycerinaldehyd * Der Drehwert alleine macht keine Aussage über die absolute Konfiguration! Nur durch Vergleich mit Literaturangaben lässt sich feststellen, welche Milchsäure, (+) oder (–), im Joghurt ist! D/L-Konfigurations-Bezeichnung (+/-)-Drehwert-Vorzeichen D-(+)-Glycerinaldehyd 25 [a] = +8.7 D L-(-)-Glycerinaldehyd 25 [a] = -8.7 D Seite 03-13 Absolute Konfiguration {Anmerkung: die Röntgenstruktur-Analyse ist eine Methode, die Anordnung von Atomen und Molekülen in einem Kristallgitter durch Röntgenbeugung zu bestimmen. Mittels dieser Methode kann man die exakten Positionen, und damit die exakten Molekülgeometrien einer Verbindung im Kristallgitter untersuchen, man „sieht“ die drei-dimensionale Struktur. Mit einer Schwierigkeit: man „sieht“ NICHT die absolute Konfiguration, d.h. man kann nicht sehen, ob es ein Bild, oder ein Spiegelbild ist [eine Analogie soll dies verdeutlichen: in einem Fernsehbild, in dem man einen Schauspieler und sein Spiegelbild vor einem dunklen Hintergrund sieht – nicht aber den Spiegel selbst wahrnehmen kann – hat man keine Möglichkeit zu unterscheiden wo der Schauspieler wirklich steht, und was sein virtuelles Bild ist]. In Röntgenstruktur-Analysen erkennt man nur die relative Konfiguration von Stereozentren, nicht aber die absolute Konfiguration (siehe auch unten!). Erst in Gegenwart von so genannten Schweratomen (Ordnungszahl ca. Schwefel und höher), kann man unter bestimmten Umständen durch einen Symmetriebruch die absolute Konfiguration bestimmen. Hat man erst einmal eine absolute Konfiguration bestimmt, kann man durch Synthesen und chemische Umwandlungen oft leicht andere Konfigurationen relativ zu dieser ersten (absoluten) Konfiguration bestimmen, und kennt damit auch die absolute Konfiguration aller anderen Chiralitätszentren. Diese Methode der Relativbestimmung – von Altem auf Neues zu schließen – ist auch heute noch die am häufigsten verwendete Methode.} Es sei an dieser Stelle nochmals betont, das die D/L-Konfigurationsbezeichnungen NICHTS mit dem Vorzeichen des Drehwertes (+/-) zu tun haben. Die im Fall des Glycerinaldehyd getroffene, willkürliche Zuordnung suggeriert diesen Zusammenhang, es gibt aber auch neben D-(+)- und L-(–)-Verbindungen genauso viele D-(–)- und L-(+)- Strukturen. Hier hilft nur die experimentelle Bestimmung des spezifischen Drehwertes weiter, der liefert aber keine Information über die Konfiguration einer Verbindung. Exakt das gleiche gilt für die (R) und (S) Nomenklatur die im Folgenden noch diskutiert werden soll, da sie sich heute als allgemein übliches System zur Bezeichnung von absoluten Konfigurations-Bezeichnung durchgesetzt hat. Zwischen den Systemen (+/-), D/L und R/S gibt es KEINEN systematischen Zusammenhang! Stellen Sie sich vor, Sie haben als Biochemiker aus einem marinen Schwamm einen neuen, unbekannten Naturstoff isoliert. Dieser hat einen Drehwert (ist also chiral), aber der sagt noch nichts über die Konfiguration. Es gibt keine allgemeine Methode sicher festzustellen ob Sie das Bild oder Spiegelbild in den Händen haben! Dies hat oft dazu geführt, das vielstufige Synthesen interessanter Naturstoffe nach jahrelanger Arbeit gezeigt haben, dass man das falsche Enantiomer mit dem falschen Vorzeichen des Drehwertes synthetisiert hat! (Gehen Sie zurück auf Los, ziehen Sie keine 4000€ ein …).* * Es gibt ein paar Auswege – die funktionieren aber leider nicht immer … Seite 03-14 Fischer-Projektion Die Fischer-Projektion von Kohlenhydraten und Aminosäuren Die erste Standard-Methode zur Schreibweise und Notation von Absolut-Konfigurationen stammt von E. Fischer (nach van‘t Hoff 1901, der zweite Nobelpreis in Chemie, 1902, "in recognition of the extraordinary services he has rendered by his work on sugar and purine syntheses"). Obwohl diese Nomenklatur zugunsten des Cahn-Ingold-Prelog-Systems zunehmend in den Hintergrund tritt, ist sie in den für die Biochemie relevanten Stoffklassen der Kohlenhydrate und Aminosäuren noch sehr weit verbreitet, und soll daher kurz angerissen werden. Grundlegende Konvention der Fischer-Projektion ist die Schreibweise von asymmetrisch substituierten Kohlenstoffatomen als „Kreuz“, mit einer waagerechten Anordnung von 2 Substituenten, und einer senkrechten Anordnung der verbleibenden 2 Reste. Dann merkt man sich die dazugehörende räumliche Definition dieser Anordnung mit einer („meiner“)* Eselsbrücke:* A Konvention A (Definition) * C = B * die vertikalen Substituenten zeigen nach hinten die horizontalen Substituenten zeigen nach vorne * Es gibt auch noch andere Merkschemata – siehe nächste Seite. H. Emil Fischer (1852-1919) 2. Nobelpreis Chemie, 1902. (Nicht passendes Paar von h's und v's) Alles weitere kann man dann mit ein bisschen Übung (oder einfacher: mit Molekülmodellen!) durch ein paar Rotationen in „brauchbare“ Keil-Strich-Formeln „umdrehen“, all diese Formeln zeigen das jeweils gleiche Enantiomer: A Konvention A * C = B * 120° 120° 180° = usw. Da es sich bei diesen Rotation nur um geometrische Transformationen des Gesamtmoleküls handelt, bleibt die absolute Konfiguration des Stereozentrums erhalten (unglaublich, aber nachvollziehbar, oder?) Seite 03-15 Fischer-Projektion Faustregel Da es für einen Neuling schwierig sein mag, sich die Voraussetzungen der Fischer-Projektion zu merken, hier eine andere Eselsbrücke: Die Mücke oben vorwärts schreitet, sie hat die Flügel ausgebreitet. Wer dort sie lebend noch kann schauen, der sieht sie unten platt gehauen. Wenn das dem Molekül passiert, dann ist´s nach FISCHER projiziert. * nach A. Wolf, Albstadt-Sigmaringen. Seite 03-16 Fischer-Projektion Enantiomere Am Beispiel des Glycerinaldehyds haben wir weiter vorne schon gesehen wie sich die D- und L-konfigurierten Enantiomere unterscheiden: D-Konfiguration (lat.: dexter) Enantiomere L-Konfiguration (lat.: laevus) Das Beispiel des Glycerinaldehyds zeigt weiterhin, dass die Vertauschung von zwei beliebigen Substituenten in der Fischer-Projektion einer Konfigurationsumkehr gleichkommt. Hier ein paar Regeln und Konventionen zur Fischer- Projektion, und der Bestimmung der Zugehörigkeit zur D- oder L-Reihe der Absolut-Konfiguration: ? 1. Die Kohlenstoffkette muss senkrecht stehen. ? 2. Das höchst-oxidierte Ende der Kette steht oben (Der Aldehyd –CHO ist höher oxidiert als der Alkohol –CH2OH). ? 3. Die anderen Atome/Substituenten stehen waagerecht. Zeigt die OH-Gruppe an C-2 nach rechts, so handelt es sich um D-Glycerinaldehyd. Das Spiegelbild ist L-Glycerinaldehyd, bei dem die OH-Gruppe nach links zeigt (für andere funktionelle Gruppen außer –H, siehe unten, L-Aminosäuren). ? 4. In der Fischer-Projektion liegen senkrechte Substituenten hinter die Zeichenebene (gestrichelt), waagerechte (Keile) ragen daraus hervor. ? 5. Austausch zweier Substituenten – egal welcher – führt zum Enantiomer; nach zweimaligem Austausch erhält man wieder die Original-Konfiguration.* * Aufpassen mit den Rotations-Regeln im Vollhardt/Schore, die Konfiguration bleibt nur erhalten wenn man um 180° um eine Achse senkrecht zur Papierebene dreht (ansonsten: Umkehr!). D-(+)-Glycerinaldehyd Enantiomere L-(-)-Glycerinaldehyd Seite 03-17 Fischer-Projektion L-Aminosäuren Bei den natürlich vorkommenden Aminosäure handelt es sich um L-Aminosäuren, wie hier für L-Alanin gezeigt: Enantiomere D-Zucker COOH * NH2 = H * NH2 = Konvention COOH COOH Konvention COOH * H = H2N * H = NH 2 NH 2 NH 2 (unnatürliche Form) D-Alanin Enantiomere L-Alanin (natürliche Form) Kohlenhydrate wie z.B. D-Glucose bringen die Schwierigkeit mit, dass sie mehrere Chiralitätszentren aufweisen (hier nur ein Beispiel, Glucose hat 4 asym. subst. C-Atome C2 , C3 , C4 und C5 ), zeigen Sie am Modell die Identität der Formeln! das höchst-oxidierte C-Atom D-Glucose C-Kette steht senkrecht * * * * * * D-Konfiguration (bei Kohlenhydraten das unterste C-Atom!) 5 4 3 HO OH D-Glucose (offenkettige Form) (Traubenzucker) Seite 03-18 Cahn-Ingold-Prelog-System CIP-Nomenklatur Die Fischer-Nomenklatur funktioniert gut bei Kohlenhydraten und Aminosäuren, und dort hat sie sich auch bis heute erhalten. Jedoch gibt es viele andere Moleküle, auf die sie ohne Aufstellen immer neuer Zusatzregeln nicht anwendbar ist; (z.B. bei verzweigten Kohlenstoffgerüsten). Die folgenden Formeln zeigen alle das gleiche Enantiomer von 2- Brombutan, nur in anderen Orientierungen – hier wird deutlich das eine Nomenklatur nötig ist, die von der Schreibweise eines Moleküls unabhängig ist: * Br Konvention = H * C2H5 H 120° Aus diesem Grund wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein ganz neues Regelwerk eingeführt (Cahn, Ingold und Prelog, CIP-Regel), die auf irgendwelche strukturellen Prämissen jenseits des Chiralitätszentrum verzichtet. Hier geht es nur um das Chiralitätszentrum selbst und die Natur bzw. Struktur der vier verschiedenen Liganden, denen nach einer Sequenzregel Prioritäten zugeordnet werden. Das macht die Regel von der Schreibweise des Moleküls vollkommen unabhängig. Für die neue Regel wurden natürlich auch neue Deskriptoren gebraucht; es sind dies „R“ (lat.: rectus, „rechts“) und „S“ (lat.: sinister, „links“). Man nennt die Regel daher auch die (R,S)-Nomenklatur. 120° Vladimir Prelog, R.S. Cahn und Sir Christopher Ingold, die das CIP-System für die eindeutige Namensgebung von Stereoisomeren vorgeschlagen haben (Bild 1966, von links nach rechts: Cahn, Ingold, Prelog). 180° = usw. Vladmir Prelog (1906-1998) Nobelpreis Chemie, 1975. Seite 03-19 Cahn-Ingold-Prelog-System CIP-Definition Obwohl CIP-Regeln für alle möglichen Arten von Konfigurations-Isomeren (Stereoisomeren) aufgestellt wurden, wollen wir uns hier auf die Grundlagen und den Fall von asymmetrisch-substituierten C-Atomen mit vier verschiedenen Substituenten beschränken. Es gilt zunächst diese 4 Substituenten an einem Chiralitätszentrum mit abnehmender Priorität A > B > C > D zu ordnen. Anschließend wird das Molekül auf dem Papier, in Gedanken, oder mit Hilfe eines Molekülmodells (!) durch Drehung so orientiert, das der Substituent D mit der niedrigsten Priorität „nach hinten“ – also vom Betrachter „weg“ – zeigt: Substituenten mit abnehmender Priorität A > B > C > D niedrigste Priorität (D) nach hinten Halbbogen von A ? B ? C B B A B A A B A B B A D D im Uhrzeigersinn Definition (R)-Konfiguration Enantiomere Halbbogen von A ? B ? C gegen Uhrzeigersinn Definition (S)-Konfiguration niedrigste Priorität (D) nach hinten Substituenten mit abnehmender Priorität A > B > C > D Abschließend schlägt man einen Halbbogen um die Substituenten A ? B ? C: verläuft dieser Halbbogen im Uhrzeigersinn, so liegt laut Definition die (R)-Konfiguration (rechtsdrehend, lat.: rectus, „rechts“). Für das Enantiomer ergibt sich nach der gleichen Prozedur ein Bogen gegen den Uhrzeigersinn, man spricht von der (S)-Konfiguration (linksdrehend, lat.: sinister, „links“). vor. Die Zuordnung der Prioritäten erfolgt anhand einfacher Regeln. Auch hier gilt: die (R)- und (S)-Zuordnung der Konfiguration hat NICHTS mit dem Vorzeichen des (nur experimentell bestimmbaren) Drehwerts zu tun! Seite 03-20 Cahn-Ingold-Prelog-System CIP-Regeln der Prioritäten Die folgenden Regeln werden verwendet um die Substituenten nach abfallender Priorität zu ordnen: 1. Man betrachtet zunächst die direkt an das Chiralitätszentrum gebunden Atome und sortiert diese zunächst nach abfallender Ordnungszahl, d.h. abfallender Priorität: z.B. I > Br > Cl > S > P > F > O > N > C > H (bei Isotopen: abfallende Masse: z.B. 13C > 12C und D > H – 2H > 1H). Beispiele (die hier gezeigten Formeln sind vororientiert – in der Praxis müssten entsprechende Strukturen erst in diese Anordnung gedreht werden): (R)-1-Brom-1-chlorethan (S)-1-Brom-1-chlorethan (S)-1-Brom-1-chlor1-iodethan der Substituenten mit der niedrigsten Priorität ist häufig -H, kann aber auch etwas anderes sein! 2. Haben nach Regel 1 zwei Substituenten die gleiche Priorität am ersten gebundenen Atom, so betrachtet man die nächsten Nachbarn dieser Atome: Konfigurationsformel 2-Brombutan 1. Sphäre (direkt an C* gebundene Atome): Br > C = C > H höchste niedrigste Priorität noch keine Entscheidung 2. Sphäre (nächste Nachbarn): (C,H,H) > (H,H,H) Ethyl-Rest Methyl-Rest Ethyl Methyl Priorität Ethyl > Methyl experimentell bestimmtes Vorzeichen des Drehwerts CIP Absolut-Konfiguration Br * (S)-2-Brombutan (S)-(+)-2-Brombutan * Aus den vorne gezeigten Formel ergibt sich (S)-(+)-2-Brombutan = D-(+)-2-Brombutan. Das Enantiomer ist dann (R)-(–)-2-Brombutan = L-(–)-2-Brombutan; (R/S) wird über D/L bevorzugt. Seite 03-21 Cahn-Ingold-Prelog-System CIP-Regeln der Prioritäten Aus den vorne beschriebenen Regeln ergibt sich die Prioritäts-Reihenfolge: tert-Butyl > iso-Propyl > Ethyl > Methyl. Falls weder die 1. Sphäre noch die 2. Sphäre eine Entscheidung zulassen, verfährt man anlog mit der 3., 4., usw. 3. Mehrfachbindungen werden wie die entsprechende Anzahl an Einfachbindungen gewertet. Ist also ein Atom durch eine Doppelbindung mit einem anderen Atom verknüpft, so wird dieses zweite Atom doppelt gezählt. So wird bei einer Carbonylgruppe (C=O) der Kohlenstoff so betrachtet, als ob er mit zwei Sauerstoff-Atomen verbunden wäre. Entsprechend wird bei einer Dreifachbindung dreifach gezählt (z.B. –COOH > -CHO > -CH2OH): gebunden an O,O,H gebunden an C,C Konfigurationsformel NH 2 L-Alanin CIP- Entsprechung CIP- Entsprechung = O H C O O C NH 2 1. Sphäre (direkt an C* gebundene Atome): N > C = C > H höchste noch keine Entscheidung 2. Sphäre (nächste Nachbarn): (O,O,O) > (H,H,H) COOH-Rest CH3-Rest -COOH CH3-Rest C C C C R CIP- Entsprechung C C H H H H niedrigste Priorität Priorität -COOH > -CH 3 HOOC CIP Absolut-Konfiguration NH 2 (S)-(+)-Alanin Seite 03-22 Cahn-Ingold-Prelog-System Noch ein Beispiel: Konfigurationsformel D-Glycerinaldehyd CIP-Fallstricke 1. Sphäre (direkt an C* gebundene Atome): O > C = C > H höchste noch keine Entscheidung 2. Sphäre (nächste Nachbarn): (O,O,H) > (O,H,H) niedrigste Priorität Priorität -CHO > -CH 2OH HOCH 2 CIP Absolut-Konfiguration Das Cahn-Ingold-Prelog-System hast zwar eine sehr weite Verbreitung und ist heute das Standard-System zur Bezeichnung von Absolut-Konfigurationen, aber auch dieses System ist nicht ganz ohne Nachteile. Als größtes Problem ist anzuführen, das sich die Prioritätenreihenfolge der Substituenten durch Reaktionen ändern kann die das Chiralitätszentrum selbst gar nicht betreffen – vergleiche das Beispiel unten mit (R)-Glycerinaldehyd (oben): Konfigurationsformel Cl H 1. Sphäre (direkt an C* gebundene Atome): O > C = C > H höchste noch keine Entscheidung 2. Sphäre (nächste Nachbarn): (Cl,H,H) > (O,O,H) niedrigste Priorität Priorität -CH 2Cl > -CHO (R)-(+)-Glycerinaldehyd CIP Absolut-Konfiguration ClCH 2 (S)-Konfiguration Seite 03-23 Racemate Schreibweisen für Racemate Butan + Br 2 -HBr 1-Brombutan Br 1 + 2-Brombutan racemische Mischung Entstehen bei einer Reaktion racemische Gemische (d.h. Enantiomere Verbindungen im Verhältnis 1:1), so ist es in den entsprechenden Strich-Formeln üblich, die Stereochemie an dieser Position entweder offen zu lassen (kein Keil, nur ein einfacher Strich, hier bleibt es dem Leser selbst überlassen, zu erkennen das ein Gemisch von Konfigurations-Isomeren vorliegt), oder durch eine Schlangenlinie zu kennzeichnen:* warum 1 : 1 Mischung (Racemat)? ? weil es egal ist welches H-Atom von Butan angegriffen wird, und ? das planare Radikal ist von "oben" und "unten" angreifbar! oder Br Br Br 2 1 : 1 (S) + (R) Nachdem nun die eingangs gestellte Frage, warum bei der Bromierung von Butan tatsächlich drei Produkte entstehen – zwei verschiedene Konstitutions-Isomere, wobei eines davon als 1:1 Mischung von zwei Konfigurations-Isomeren anfällt (2 Enantiomere als Racemat) – können wir nun zu komplizierteren Systemen übergehen. * Im Namen gibt man dies dann entweder keine (R/S)-Bezeichnung an, oder man schreibt (R/S)-2-Brombutan oder D/L-2-Brombutan um das Racemat zu kennzeichnen. Br 2 Seite 03-24 Enantiomere und Diastereomere Mehrere Chiralitätszentren H3C * 2 2-Brom-3-chlorbutan 2 Chiralitätszentren 2 2 = 4 Stereoisomere Enantiomere (S) (S) (2S,3S) (R) (R) (2R,3R) (S) (R) (2S,3R) (R) (S) (2R,3S) Spiegelung Spiegelung vorne Sind in einem Molekül mehrere Chiralitätszentren vorhanden, so müssen die CIP (R/S)-Deskriptoren der Konfiguration für jedes Chiralitätszentrum unabhängig voneinander bestimmt und angegeben werden:* hinten Spiegelebene (Papierebene) Resultat sind 2 2 = 4 Konfigurations-Isomere (S/S, S/R, R/S und R/R) – davon jeweils zwei Enantiomeren-Paare: (S/S und R/R versus R/S und S/R). Nur diese zwei Paare sind jeweils Enantiomere (d.h. Bild und Spiegelbild) und haben damit gleiche physikalische und chemische Eigenschaften. Alle anderen möglichen Paare (z.B. S/S und R/S) verhalten sich untereinander nicht mehr wie Bild und Spiegelbild, und haben daher auch verschiedene physikalische und chemische Eigenschaften (Siedepunkt, Schmelzpunkt, Dichte, Löslichkeit, etc.). Diese „ungleichen“ Paare von Konstitutions-Isomeren werden Diastereomere genannt. * Überprüfen Sie die (R/S)-Deskriptoren! Seite 03-25 Enantiomere und Diastereomere Weil das so wichtig ist, hier noch einmal das gleiche in anderer Darstellung: Cl H3C 3* CH3 * Br 2 2 Chiralitätszentren 22 = 4 Stereoisomere (vier verschiedene Cl (S) (S) Br Cl (S) (R) Br 2-Brom-3-chlorbutan Konfigurations-Isomere) (2S,3S) (2S,3R) Enantiomeren-Paare ? gleiche phys. + chem. Eigenschaften Cl Cl ? gleiche Drehwerte, aber anderes Vorzeichen ? nicht trennbar (R) (R) (R) (S) Br Br Diastereomeren-Paare ? unterschiedliche phys. + chem. Eigenschaften ? ungleiche Drehwerte, Vorzeichen nicht vorhersagbar (2R,3R) (2R,3S) ? einfach trennbar (Kristallisation, Chromatographie, etc.) Enantiomere Diastereomere Enantiomere Ganz allgemein gilt, das bei Vorlegen von N stereogenen Zentren maximal 2 N Stereoisomere vorliegen können. „Können“, aber nicht „müssen“ [Die Auswirkungen von Symmetrie-Eigenschaften können schwer überschaubar sein]. Das Beispiel von 2-Brom-3-chlorbutan hat gezeigt, was passieren kann, wenn mehrere unterschiedliche Stereozentren vorliegen (hier ist eines mit –Cl, das andere mit –Br substituiert). Was passiert nun, wenn zwei gleichartige Chiralitätszentren vorliegen, wie dies z.B. in der Weinsäure, oder im bereits angesprochenen 1,2- Dimethylcyclohexan der Fall ist? H3C * 2 2-Brom-3-chlorbutan HOOC * 2 Weinsäure COOH 1,2-Dimethylcyclohexan Seite 03-26 Chiral und „Meso“ Weinsäure HOOC * 2 Weinsäure COOH 2 Chiralitätszentren 2 2 = 4 Stereoisomere (vier verschiedene Konfigurations-Isomere) HOOC HOOC (R) (R) (2R,3R) (S) (S) (2S,3S) COOH Enantiomere Diastereomere COOH HOOC HOOC (R) (S) (2R,3S) achirale "meso"-Form (S) (R) (2S,3R) Von der Weinsäure mit zwei Stereozentren sind vier Stereoisomere zu erwarten, tatsächlich treten aber nur drei auf: Die chiralen (R/R) und (S/S) Stereoisomeren bilden wiederum ein Paar von Enantiomeren mit gleichen Eigenschaften (mit Ausnahme des Vorzeichens von ihrem Drehwerts). Im Fall des (R/S)-Isomeren kann dies leicht mit seinem Spiegelbild, dem (S/R)-Isomeren zur Deckung gebracht werden (Rotation um 180° um eine Achse senkrecht zur Papierebene). Wenn diese beiden Formen (R/S) und (S/R) Bild und Spiegelbild sind, und wenn diese deckungsgleich sind, dann sind beide achiral und identisch! Man spricht dann von einer so genannten „meso“-Form: trotz Vorliegen von Chiralitätszentren ist das Molekül achiral und optisch inaktiv. Ursache ist, das zwei gleichartige Chiralitätszentren jeweils entgegengesetzter Konfiguration vorliegen, und diese sich „gegenseitig aufheben“. Von der Weinsäure gibt es nur drei Konfigurations-Isomere! COOH COOH identische Moleküle (Drehung um 180°) Seite 03-27 Chiral und „Meso“ Dass die „meso“-Form der Weinsäure optisch inaktiv und achiral sein muss, kann man mit einem Kniff leicht erkennen: entweder erkennt man, dass das Molekül in der links gezeigten Schreibweise ein Inversionszentrum besitzt, oder man dreht die linke Seite des Moleküls (Drehung um eine Einfachbindung!), so dass man die Spiegelebene in der Mitte sieht (die Spiegelebene ist auch in der Fischer-Projektion gut zu erkennen, einer der selten Fälle wo die mal praktisch ist). Allgemein ist ein Molekül, das mindestens eine Spiegelebene oder ein Inversionszentrum als Symmetrieelement besitzt, automatisch achiral. Dann muss man gar nicht weiter dran rumdrehen … dann ist es „meso“. (und wenn kein Chiralitäts-Element vorliegt muss man gar nicht erst suchen, dann ist ein Molekül gleich achiral). Inversionszentrum HOOC Im Katalog steht noch D/L-Weinsäure (engl.: Tartaric Acid). Was ist das dann? Name COOH COOH H 2 OH COOH oder HOOC (R) 2 3 (R) COOH HO (2R,3R)-(+)-Weinsäure nach vorne und oben drehen! Spiegelebene HOOC HOOC (S) 2 3 (S) COOH HO (2S,3S)-(-)-Weinsäure COOH L-(+)-Weinsäure HO H H OH D-(-)-Weinsäure 3 3 Spezifischer Drehwert [°] 25 [a] = +12.0 D COOH HO 2 H COOH 25 [a] = -12.0 D HOOC HOOC HO OH COOH H 2 OH COOH COOH 2 COOH Anmerkung: Beachten Sie die gleichen physikalischen Eigenschaften der Enantiomere – bis auf den Drehwert und der Preis, aber letzterer ist nicht wirklich eine physikalische Eigenschaft … HO meso-Weinsäure 25 [a] = 0 D Spiegelebene Schmelzpunkt [°C] 168-170 168-170 146-148 Dichte d [g/cm 1.7598 1.7598 1.6666 3 EnantioDiastereo- ] meremere Preis [100g] (Acros) natürliche Form 25 € 120 € unnatürliche Form 520 $ (25g!) unnatürliche Form achiral (Spectrum Chemicals) Seite 03-28 Chiral und „Meso“ 1,2-Dimethylcyclohexan „Achiral“, „Chiral“, oder „Meso“?* Großer Kudu Elefanten-Kuss Wer bis hierhin gefolgt ist, kann nun die Frage beantworten, warum es drei verschiedene Konfigurations-Isomere des 1,2-Dimethylcyclohexans gibt: 1 Konstitution Konfiguration 2 Abb.: © Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005. * Futter zum Nachdenken – ich bin offen für Vorschläge! Nautiliden Seite 03-29 Biochemie ist Chiral Enzyme als chirale Werkzeuge Carvon Kümmel Spearmint S(-) R(+) Koniferen- Geruch Limonen Zitrus- Aroma COOH Phenylalanin bitter süß COOH NH 2 Warum können Enzyme chirale Moleküle unterscheiden, wo doch die chemischen Eigenschaften von Enantiomeren selbst nicht unterscheidbar sind? Enzyme selbst sind chiral! Die Aminosäuren aus den Enzyme aufgebaut sind, sind chiral, damit sind es Enzyme auch. Wenn nun ein chirales Substrat in ein Enzym eindocken muss, bevor es umgesetzt werden kann, kommt es zu folgender Situation: der Enzym-Substrat-Komplex wird diastereomorph – und damit haben diese Komplexe unterschiedliche chemische Eigenschaften. Enzyme sind als chirale Werkzeuge in der Natur in der Lage, chirale Bausteine zu unterscheiden. Daher kommt es oft vor, das die verschiedenen Enantiomere chiraler Verbindungen sehr stark unterschiedliche Wirkungen in biologischen Systemen entfalten können. Geruchs- und Geschmacksstoffe sind davon ebenso betroffen wie Pharmaka und Medikamente. Biochemiker müssen alleine schon deshalb mit dem Phänomen der Chiralität vertraut sein. Dieses Kapitel sollte die Grundlagen legen. Abb.: © Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005. Thalidomid (Contergan) NH O O O N O Schlafmittel Teratogen Seite 03-30 Der Ursprung von Chiralität? Angew. Chem. 2003, 115, 329-331. Diskussionen willkommen … Seite 03-31 Organische Chemie für Biologen - Vom Methan zu Biomolekülen Freiwilliges Zusatzmaterial – Chiralität Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/chirality/ Seite 03-32 Zusatzmaterial – Chiralität Achirale Verbindungen! – Nicht gleich erkennbar? HO OH HOOC Ph COOH „Normale“ Chirale Verbindungen R 1 S R 2 Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/chirality/ enantiomers S 4 symmetry 1,3,5,7-tetrabromo- 2,4,6,8-tetramethyl-cyclooctane 2S 2R 2-bromo-butane 2R 2R OH R 1 S OR 2 sulfoxides sulfinic esters R 1 S R 2 2,3,7,8-tetramethylspiro[4.4]nonane D H 1-butanol-1-d R 1 O S OR 2 R 1 S R 2 sulfites sulfonium salts Ph N N Cl Cl enantiomers Ph H3C N N amines aziridines Tröger's base S 6 conformation [6.5]coronane R1O S OR2 O18 O sulfones 16 Seite 03-33 Zusatzmaterial – Chiralität Enantiomere, Diastereomere und meso-Verbindungen diastereomers 3S 2S enantiomers 3S 2R meso 3R 2R 3R 2S 2,3-dibromo-butane 1R NH2 2R NH2 1 NH 2 2 NH2 H 2N H2N enantiomers trans-1,2-diamino-cyclohexane Br Br Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/chirality/ HOOC HOOC 1R NH2 2S NH 2 NH 2 NH 2 3R 2R 3R 2S 120° COOH HOOC enantiomers COOH meso HOOC tartaric acid NH 2 3S 2S cis-1,2-diamino-cyclohexane 3S 2R COOH COOH NH 2 Seite 03-34 Zusatzmaterial – Chiralität Weitere Typen chiraler Moleküle enantiomers twistane COOH HOOC enantiomers tetrasubstituted adamantane derivatives enantiomers H3C O O enantiomers camphor 1 CH3 CH 3 disubstituted adamantane derivatives Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/chirality/ enantiomers 2,5-dimethyl-bicyclo[2.2.2]octa-2,5,7-triene H CH 3 Cl Cl Cl Cl Cl Cl Cl perchlorotriphenylamine H 2,4,5,7,8,9b-Hexahydro- 1H-phenalene Seite 03-35 Zusatzmaterial – Chiralität Axiale Chiralität Supramolekulare Chiralität HOOC NO2 COOH O 2N enantiomers (atropisomers) biphenyls COOH O2N HOOC NO 2 Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/chirality/ NO 2 2' OCH3 OCH3 2 achiral achiral enantiomers allenes (penta-2,3-diene) H3C H enantiomers 2,6-dimethyl-spiro[3.3]heptane (CH 2) n (CH 2) n enantiomers 1-ethylidene-4-methyl-cyclohexane enantiomers (atropisomers) 2,2'-dimethoxy-binaphtyl enantiomers catenanes molecular knots Seite 03-36 Zusatzmaterial – Chiralität Helikale Chiralität Planare Chiralität (n > 3) [n]helicenes [8]-helicene racemization H3C CH3 H H CH3 H H enantiomers H3COOC enantiomers trans-cyclooctene heptalenes H H3C H3COOC 3C HOOC [8]paracyclophane carboxylic acid planar chirality Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/chirality/ enantiomers [2.2]paracyclophane COOCH3 CH3 COOCH3 Fe ferrocenes Seite 03-37 Organische Chemie für Biologen - Vom Methan zu Biomolekülen Freiwilliges Zusatzmaterial – Symmetrie Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/symmetry/ Seite 03-38 Zusatzmaterial – Symmetrie-Elemente identity E mirror plane s mirror plane n-fold rotation axis C n mirror plane s h center of inversion center of inversion i 360° mirror plane s v S 1 axis 180° Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/symmetry/ n-fold improper rotation S n S 2 axis mirror plane s d C2 sd C 2 S n axis 360°/n Seite yes linear? no i ? yes D8h 03-39 Zusatzmaterial – Bestimmung von Punktgruppen Molecular Geometry yes yes Cn=4 ? sh ? yes n sv ? S 2n ? yes Cn=5 ? S 2n yes s or i ? Oh yes s or i? s h ? yes n sd ? D nh D nd Q1: Two or more C n with n = 3 ? Q2: Select C n with highest n; then are n C 2 perpendicular to C n? Chiral point groups Achiral point groups Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/symmetry/ D nh D nd n = 2 n = 3 n = 4 n = 5 n = 6 n = 8 cone cylinder sphere Seite OH C HOOC 3R i 2S COOH OH 03-40 Zusatzmaterial – Molekül-Symmetrie – Punktgruppen propene meso-tartaric acid (S)-2-bromo-butane 2' OCH3 OCH3 2 2,2'-dimethoxy-binaphtyl 9bH-Phenalene vinylchloride COOH L-phenylalanine allenes (penta-2,3-diene) (2R,3R)-tartaric acid D-mannitol 2,6,7-trimethyl-1-azabicyclo[2.2.2]octane OH HO O O OHHO O O HO OH O OHO HO OH a-cyclodextrin HO OH OHO O HO OHHO OH O O HO O O OH water ozone Cl Cl formaldehyde (Z)-1,2-dichloroethene m-xylene ammonia chloroform tert-butylbromide calix[4]arene buta-1,3-diene 1,4-dibromo- 2,5-dichloro-benzene Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/symmetry/ (E)-1,2-dichloroethene Br phenanthrene chloro-ethyne Seite 03-41 Zusatzmaterial – Molekül-Symmetrie – Punktgruppen D2 D3 O O O O O O 3+ O Fe O O O O twistane O D 2h D 4h D8h N N O C O H H D 3d nitrogen carbondioxide acetylene D2d H H • H H 90° allene (propa-1,2-diene) biphenyl 1,3,5,7-cyclooctatetraene cyclohexane ethene 1,4-dibromobenzene Cl Au Cl Cl AlCl 4 - D 5h ethane (staggered) tris(oxalato)iron(III) [Fe(ox) 3] 3- [2.2]paracyclophane Fe ferrocene (ecliptic) Cl Cl D 3h D 6h Cl Cl Cl Cl Cl Cl perchlorotriphenylamine D 5d Fe Br B Br benzene tribromo-borane ferrocene (staggered) molecular knots coronene Co Co Co 4(Cp 4) tetraphenylmethane CO OC CO Cr OC CO CO [Cr(CO) 6] dodecahedrane PtCl 6 2- 2 B12H12 boranes spheres, but no molecules F F F P F F F PF 6 - cubane [60]fullerene (C 60) Ga 12 O L L L N NH L N N T L Ga L = O O O O Th Fe HN Ga Ga N N O N L [Ga 4L 6] 12- Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/symmetry/ 1,3,5,7-tetrabromo- 2,4,6,8-tetramethylcyclooctane 2,3,7,8-tetramethylspiro[4.4]nonane S 6 Fe[(C 6H 5N) 6] 2+ adamantane [6.5]coronane ferritin iron transport protein (24-mer) poliovirus, rhinovirus (60-mer) Seite 03-42 Zusatzmaterial – Stereographische Projektionen Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/symmetry/ D 2h D 2d D 3h D 3d D 4h D 6h Seite high symmetry low symmetry 03-43 Zusatzmaterial – Hierarchie der Symmetrie D 4h D 3d D 2d D 2h solid arrows indicate correlations between point groups dashed arrows indicate correlations to be continued in the scheme below high symmetry 4 6 correlations: n=6?3 n=6?2 2 3 n=4?2 low symmetry D nd n=6?3 n=4?2 (A) (B) n=3?6 A: n=2?4 only B: n=3?2 incl. n=3?2 solid arrows indicate correlations with n unchanged unless indicated in shaded boxes Detaillierte Informationen unter: http://sugar.oc.chemie.tu-darmstadt.de/ak/immel/tutorials/symmetry/ incl. n=3?2 D nh 2 3 Dnh C n n=6?3 n=4?2 n=2,4,6