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Organische Chemie für Biologen - Vom Methan zu Biomolekülen
04 – Halogenalkane und S N-Reaktionen
Empfehlung: Kapitel 6+7, Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005.
Priv.-Doz. Dr. Stefan Immel Universität Leipzig, Wintersemester 2007/2008.
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Halogenalkane / Alkylhalogenide
Nomenklatur und Eigenschaften
Formel
Cl Cl
Dichlormethan Methylenchlorid
CCl 4
Formel (CH 3X)
Cl Cl
Elektronegativität (X)
4.0 3.2 3.0 2.7
IUPAC Name Trivialname
apolare Lösungsmittel
Tetrachlormethan Tetrachlorkohlenstoff ("Tetra")
Br 2-Brom-2-methylpropan tert-Butylbromid
Bindungslänge [pm]
139 178 193 214
fallende EN(X) steigender Atomradius (steigende Polarisierbarkeit) Bindungsenergie [kJ/mol]
461 356 297 239
abnehmende Bindungsenergie (zunehmende Größe von X ? schlechte Orbital-WW mit C)
Dipolmoment [Debye]
1.858 1.892 1.822 1.620
Siedepunkt
-24°C
43°C
77°C
vgl.: CH4 -162°C
Dielektrizitäts Konstante e
51.0 10.0 9.7 7.0
80.1 (vgl. H abnehmende 2O) Polarität mit abnehmender EN
Die Namen der Halogenalkane leiten sich von den Alkanen ab, wobei die Halogenatome als Substituenten behandelt werden:
F Cl Br I
Dichte 25°C [g/cm - 3 Dielektrizitäts- ] Konstante e (Gas)
1.325
1.594
8.93
4.81 5.2
4.40
2.24
(hohe Dichte durch schwere Halogenatome ? schwerer als H 2O)
d d d H3C X H3C d X
apolare Lösungsmittel
permanenter Dipol ? höherer Siedepunkt als Alkane, aber trotzdem wenig polar (im Vergleich zu Wasser) und daher nicht mischbar mit Wasser
* Die Chemie der Halogenalkane wird geprägt durch die Elektronegativität der Halogene (-I-Effekt) und die Polarisation und Schwäche der C-X Bindung (außer F).
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Halogenalkane / Alkylhalogenide
Verbreitung von Halogenalkanen
F F F F
F F F n F F F Teflon (Polyfluorethylen, Polymer) Cl Cl Cl Cl Cl Cl Cl Lindan (Hexachlorcyclohexan)
Cl Cl
Cl Cl
PVC (Polyvinylchlorid, Polymer)
Cl Cl
Decachlorbiphenyl
Cl Cl
Cl Cl
Cl Cl Cl Insektizide DDT (Dichlor-diphenyl-trichlorethan) R
Cl Cl Cl
Unter bekannten halogenierten Verbindungen* sind Polymere wie Teflon und PVC zu nennen, aber auch extrem giftige Substanzen wie Dioxin, oder viele früher sehr gebräuchliche Insektizide, die allerdings aufgrund ihrer biologischen Abbau-Resistenz („persistent organic pollutants“, POPs) und der damit verbunden Akkumulation in der Nahrungskette mittlerweile verboten wurden („dirty dozen“). Auf der anderen Seite wurden aber auch halogenierte Naturstoffe – obwohl relativ selten, und dann meist marinen Ursprungs** – gefunden und identifiziert.
Halogenierte Terpenoide der Rotalge Plocamium cartilagineum
"Dioxin" (TCDD, Tetrachlor-dibenzo-dioxin)
Chlordan
* Auf die Problematik der Fluor-Chlor-KW (FCKW) und die Ozon-Schicht sei hingewiesen! ** Siehe: „Marine natural products”, R. A. Hill, Annu. Rep. Prog. Chem., Sect. B 2003, 99, 183–207.
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Reaktionen der Halogenalkane
Nucleophile Substitution
Nucleophile (aliphatische) Substitution (S N Reaktionen)
Nucleophil Nu
nucleophiler Angriff
Nucleophil (? "Kern-liebend") ? freie Elektronenpaare, hohe Elektronendichte ? bevorzugt negative Ladung oder Partialladung ? Angriff an positiv geladenen oder polarisierten Zentren
Dipolmoment (Polarisationsrichtung)
Abgangs- / Flucht-Gruppe Reaktionsprodukt Substitution (Ersatz) "X" ? "Nu"
Nu C +
Elektrophil (? "Elektronen-liebend") ? Elektronenlücke oder niedrige Elektronendichte ? bevorzugt positive Ladung oder Partialladung ? Angriff an negativ geladenen oder polarisierten Zentren
Halogenalkane reagieren oft bevorzugt nach dem folgenden allgemeinen Reaktionsschema der „Nucleophilen Substitution“ („S N “-Reaktion), das die wichtigen Faktoren zusammenfasst:
Abgangsgruppe unter Mitnahme des Elektronenpaars
X muss die negative Ladung stabilisieren
Die Nucleophile Substitution ist eine sehr variantenreiche Reaktion, die ein sehr breites Spektrum an Nucleophilen („Nu“) mit einer Vielfalt an Abgangsgruppen („X“) kombiniert:* I N C H O + H3C Cl H O CH3 + Cl N C + + I
H3C O + H2C I H3C O CH2 + I
I + HC Br I CH + Br
H3C CH3 H3C CH3 H3C S + Br H3CS + Br
H3C NH2 + H3C + Cl Cl N
* In den angegebenen Formeln sind nur im ersten Beispiel alle vorhandenen freien Elektronenpaare explizit angegeben. In allen anderen Fällen müssen diese gedanklich „ergänzt“ werden.
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Nucleophile Substitution – Reaktionsverlauf
Reaktionsrichtung
Allgemeine Reaktion reversibles Gleichgewicht Nu C X Nu C + X
Beispiele
praktisch irreversibel
+ Na Cl
= NaOH (Natronlauge) Chlorethan Ethanol = NaCl (Kochsalz)
Gleichgewichtslage rechts ?
LM: Aceton
C-O-Bindung stabiler als C-Cl
C-Cl-Bindung stabiler als C-I
+ Li I
= LiCl (Lithiumchlorid) 1-Iodethan 1-Chlorethan = LiI (Lithiumiodid)
= NaI (Natriumiodid) (löslich in Aceton)
Gleichgewichtslage rechts ?
+ Na Cl
1-Chlorethan 1-Iodethan = NaCl (Kochsalz)
Gleichgewichtslage wird bestimmt durch die Stabilität der Edukte und Produkte (Bindungsstärke der gebrochenen und gebildeten Bindungen)
Erzwingen der Umkehrreaktion mit einem "Trick": Wechsel des Kations
C-I-Bindung weniger stabil als C-Cl
LM: Aceton
LiCl und LiI sind beide löslich in Aceton
NaCl ist unlöslich in Aceton und fällt als Salz aus ? Verschiebung des Gleichgewichts nach rechts
LM = Lösungsmittel
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Nucleophile Substitution – Nucleophile + Abgangsgruppen
Auswahl an Nucleophilen und Abgangsgruppen*
Allgemeine Reaktion
Nu C X Nu C + X
Anion Neutralmolekül
Anionische Nucleophile (Nu - ) Neutrale Nucleophile (Nu)
Halogenide (Y = F, Cl, Br, I)
Hydroxid
Methoxid (Methanolat)
allgemein: Alkoholate
Sulfid
Methylsulfid
allgemein: Thiolate
Amide
Phosphide
Cyanid (über das C-Atom, oder über N)
(kann Nucleophil oder auch Abgangsgruppe sein)
Wasser (H 2O)
Methanol
allgemein: Alkohole
Schwefelwasserstoff (H 2S)
Thiomethanol
allgemein: Thiole
Amine
Phosphane
Typische Abgangsgruppen (X - )
Halogenide (Y = Cl, Br, I)
Methylsulfat
Mesylat
Triflat
Tosylat
Nu C X Nu C + X
F 3C(O 2)S
(O 2)S
(Abkürzung: R = Alkylrest)
* Die Reihenfolge der Auflistung von Nucleophilen in dieser Tabelle gibt hier keine Auskunft über die Qualität der Abgangsgruppen.
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Nucleophile Substitution – Die Abgangsgruppe
Einfluss der Abgangsgruppe
Reaktion der Abgangsgruppe
Qualität der Abgangsgruppe X :
Basenstärke von X :
Säurestärke der konjugierten Säure HX :
gute Abgangsgruppe = stabilisiertes Anion
pK s-Werte
schwache Base
starke Säure
gute Abgangsgruppen
Vergleich mit Säurestärke und Basizität
keine Abgangsgruppen!
I > Br > Cl >> F >
-10 -9 -8 +3.2
starke Säure ? gute Abgangsgruppe
konjugiertes Säure/Basen Paar
Konjugierte Säure HX : HI HBr HCl HF HOH IodwasserBromwasser- Salzsäure Flusssäure Wasser stoffsäurestoffsäure OH
starke Base
schwache Base
+15.7
Da die Abgangsgruppe (= Fluchtgruppe) ein Elektronenpaar (und oft eine negative Ladung) mitnimmt, sollte diese Ladung möglichst gut stabilisiert sein. Je besser die Ladung stabilisiert ist, um so schwächer ist die Basizität* einer Fluchtgruppe, und umso besser sollte diese sein. Umgekehrt folgt daraus: je stärker ist die konjugierte Säure zur Fluchtgruppe ist, um so besser ist die Abgangsgruppe:
Qualität der Abgangsgruppe (= Eignung als Abgangsgruppe)
schwache Base ? gute Abgangsgruppe
allgemeiner Zusammenhang: starke Base = schwache konjugierte Säure (und umgekehrt)
Anmerkung: pK s -Werte bezeichnen die Säurestärke – je niedriger der pK s -Wert ist, desto stärker ist eine Säure; zu beachten ist, dass es sich hier um eine logarithmische Einheit handelt, eine pK s -Einheit entspricht also immer einem Faktor von 10 in der Säurestärke bzw. Basizität!
* Die Basizität ist ein Maß für die Bereitschaft eines Teilchens, seine Elektronen Protonen (H + ) zur Verfügung zu stellen, d.h. niedrige Basizität ? gut stabilisiertes Anion ? gute Fluchtgruppe.
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Nucleophile Substitution – Die Abgangsgruppe
Qualität der Abgangsgruppe
Abgangsgruppe X :
Basenstärke X : Säurestärke HX :
pK s-Werte
gute Abgangsgruppen
schwache Base
starke Säure
-10 -9 -8 -1.7 -1.2 +3.2 +4.75
starke Base
schwache Säure
Konjugierte Säure HX : HI HBr HCl H3O HO3SCH3 HF HOOCCH3 H2O +15.7
schlechte Abgangsgruppen extrem schlecht
I Br Cl H2O O3SCH3 >> F OOCCH3 CN OCH3 OH NH2 H Iodid Bromid Chlorid Wasser Mesylat Fluorid Acetat Cyanid Methanolat Hydroxid Amid Hydrid
+9.2 HCN
+15.5 HOCH3 sehr starke Base
sehr schwache Säure
IodwasserBromwasserHydron- Salzsäure Essigsäure Wasser- Me-Sulfonsäure Flusssäure Blausäure Methanol Wasser Ammoniak stoffsäurestoffsäureiumionstoff Konsequenz aus der Abgangsgruppenqualität: H 2 O versus HO -
Eine wesentliche Konsequenz aus der Korrelation der Qualität einer Abgangsgruppe X - mit der Säurestärke ihrer konjugierten Säure HX ist, dass eine OH-Gruppe niemals als OH - (Hydroxid) ein Molekül verlässt, sondern immer nur Säure-katalysiert nach vorausgegangener Protonierung als H 2 O (Wasser):*
niemals ! Nu C OH Nu C + OH
nur nach Protonierung (Säurekatalyse)
Hydroxid
Wasser
* Dieser Umstand ist sehr wichtig auch für enzymatische Reaktionen, und wir werden ihm noch mehrmals begegnen: eine OH - -Abgangsgruppe bringt mich in der Klausur zum kreischen!
+35 H3N starke Base = schlechte Abgangsgruppe
schwache Base = gute Abgangsgruppe
+38 H2
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Nucleophile Substitution – Das Nucleophil
Qualität des Nucleophils
Allgemein gilt, dass Nucleophile negativ geladene oder negativ polarisierte Spezies darstellen. Für jedes Element steigt die Nucleophile mit dessen negativer Ladung an. Analog zur Qualität einer Abgangsgruppe, lässt sich weiterhin die Nucleophilie eines Teilchens mit der Basenstärke korrelieren: starke Basen stellen ihre Elektronen bevorzugt Protonen (H + ) zur Verfügung – parallel dazu steigt die Nucleophilie eines Teilchens an:
Reaktion des Nucleophils Vergleich mit Basizität und Säurestärke
Nu C X Nu C + X Base H Base H
gutes Nucleophil = hohe Ladung
starke Base ? gutes Nucleophil
konjugiertes Säure/Basen Paar
Nucleophilie steigt mit der Ladung Hydroxid H O > H O H Wasser
(starke Basen) Anionen
Alkoholate
Thiolate
Amide
R O > R O H Alkohole
R S > R S H Thiole R R N > R R N H Amine
steigende Nucleophilie
schwache Säure
neutrale Teilchen (schwache Basen)
Die Korrelation zwischen Nucleophilie und Basizität gilt im Periodensystem nur innerhalb einer Periode (von rechts nach links) – in den Gruppen (von oben nach unten) ergibt sich ein gegenläufiger Trend.
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Nucleophile Substitution – Das Nucleophil
Nucleophilie im Periodensystem
Nucleophilie nimmt im Periodensystem innerhalb einer Periode nach rechts ab (bei gleicher Ladung z.B. N > O > F):
Nucleophil Nu :
Basenstärke Nu : Säurestärke HNu :
pK s-Werte
sehr gute Nucleophile
sehr starke Base
sehr schwache Säure
+35 NH3 Konjugierte Säure HNu : H 2O
> HO > H3N > F >
+15.7
+9.25 NH4 Ammoniumion
gute bis mäßige Nucleophile
+3.2 HF
Amid Hydroxid Ammoniak Fluorid Wasser
schwache Base
starke Säure
-1.7 H3O Ammoniak Wasser Flusssäure Hydroniumion
Nucleophilie nimmt im Periodensystem innerhalb einer Gruppe nach oben ab (z.B. I > Br > Cl > F):
sehr gute Nucleophile
Nucleophil Nu : I Br > Cl > F
Nucleophil Nu :
Iodid
Thiole
R 3P
Phosphane
Bromid
Alkohole
> R 3N
Amine
gute bis mäßige Nucleophile
Chlorid
Fluorid
d F d
Der Trend der Nucleophilie im Periodensystem der Elemente ergibt sich wie folgt: innerhalb der Perioden (waagerecht) sinkt die Nucleophilie von links nach rechts (abnehmende Basizität, fallende Bereitschaft ein Elektronenpaar zur Verfügung zu stellen). Innerhalb der Gruppen fällt die Nucleophile allerdings von unten nach oben ab (entgegengesetzt der Basizität!), da mit sinkendem Atomradius die Polarisierbarkeit der Elemente – und damit die Bereitschaft ein Elektronenpaar zu teilen – abnimmt (kleine Atome sind weniger polarisierbar als große):
Fluorid ? kleiner Atomradius ? hohe Elektronegativität ? schwer polarisierbar ? schwach nucleophil
Nucleophilie im PSE
hoch
niedrig
Iodid ? großer Atomradius ? niedrige Elektronegativität ? leicht polarisierbar ? stark nucleophil
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Nucleophile Substitution – Das Nucleophil
Lösungsmitteleffekt
Nucleophilie in polar protischen Lösungsmitteln
Polar protische Lösungsmittel können Wasserstoff-Brückenbindungen ausbilden:
Nucleophilie in aprotisch polaren Lösungsmitteln
Aceton
H3C DMF Dimethylformamid
S CH3
DMSO Dimethylsulfoxid
Die nucleophile Substitution zeigt z.T. erhebliche Lösungsmitteleffekte. In polaren protischen Lösungsmitteln sind Nucleophile, insbesondere kleine Nucleophile, stark solvatisiert (Wasserstoff-Brückenbindungen), und daher wenig ausgeprägt nucleophil (F - ). Polare aprotische Lösungsmittel können aufgrund des Fehlens entsprechender Wasserstoff-Atome keine H-Brücken ausbilden, und allgemein steigt die Nucleophilie – insbesondere die kleiner Ionen wie Fluorid – sehr stark an.
Wasser Methanol (Alkohole)
Iodid ? großes Ion ? gut polarisierbar ? diffuse Ladung ? schwache Solvatation ? schwache H-Brücken ? hohe Nucleophilie
H3C C N (H3C) 2N P N(CH3) 2 N(CH3) 2 S H3C N O Acetonitril HMPT O O Nitromethan Hexamethylphosphorsäuretriamid Sulfolan
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Nucleophile Substitution – Ambidente Nucleophile
Ambidente Nucleophile
X + C N C
zwei reaktive Positionen im Nucleophil
Isonitril Cyanid
? normalerweise Nebenprodukt ? sehr giftig und stechender Geruch
X + C N C
Isonitril ? jetzt Hauptprodukt
X + C N C
Isocyanat
X + C N C
Isothiocyanat
Ag CN
Silber-Komplex
Nitril ? normalerweise Hauptprodukt
Steuerung der Reaktion durch Blockade der C-Position
Cyanat
Cyanat
S X C C X N C S C + X
Thiocyanat/Rhodanid
Thiocyanat
Einige Nucleophile haben die Möglichkeit über zwei unterschiedliche Atome eine nucleophile Substitution einzugehen, sie werden daher als ambidente Nucleophile („zweizähnige“, lat.: ambi, „beide“; lat: dens, „Zahn“) bezeichnet. Zu dieser Klasse gehört vor allem Cyanid, aber auch Cyanat oder Thiocyanat:
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Nucleophile Substitution – Varianten
Intermolekulare und intramolekulare nucleophile Substitutionen
Die bisher diskutierten nucleophilen Substitutions-Reaktionen haben allesamt verschiedene intermolekulare (zwischen-molekulare) Varianten dieser Reaktion beschrieben – das angreifende Nucleophil und das angegriffene Halogenalkan waren immer zwei getrennte Edukte, die zur Reaktion gebracht wurden. Synthetisch besonders hilfreich sind auch Substitutions-Reaktionen, bei denen sich Nucleophil und Abgangsgruppe in einem Molekül befinden. Diese intramolekularen Varianten der S N -Reaktionen erlauben – bei geschickter Anordnung im Molekül – die Synthese verschiedener Ringsysteme unterschiedlicher Größe. Als Faustregel gilt dabei, dass die Bildungstendenz von 5- und 6-Ringen besonders ausgeprägt ist. Auch 3-Ringe (insbesondere N- und O-haltige) lassen sich elegant synthetisieren – während generell die Bildungstendenz von 4-Ringen und Ringen mittlerer Größe (n = 7) sehr gering ist:
+ NaOH
- H 2O
+ NaOH
- H 2O
- NaCl
- NaBr
Tetrahydrofuran (THF)
Im folgenden soll eine detaillierte Diskussion des exakten Mechanismus der nucleophilen Substitution geführt werden, die Fragen nach dem detaillierten Ablauf dieser variantenreichen und vielfältigen Reaktion beantworten soll. Es sollen die grundlegenden Reaktionsprinzipien anhand der molekularen Mechanismen diskutiert werden. Letztendlich sind es – neben den strukturellen Eigenschaften von Molekülen und den Stoffklassen – diese Mechanismen, die das Rückgrat der Organischen Chemie bilden.
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Nucleophile Substitution – Die Mechanismen S N 1 und S N 2
Die Nucleophile Substitution: der SN1 und SN2 Mechanismus ÜZ = Übergangszustand ZS = Zwischenstufe Gleichzeitiger Angriff des Nucleophils Nu ‡ Nu C X Nu C X Nu C + X - und Austritt von X- Austritt von X- unter Umklappen der Substituenten am C-Atom (Walden-Umkehr)
S N 2-Mechanismus ? 2 Teilchen im Geschw.-bestimmenden ÜZ ? bimolekulare Reaktion 2. Ordnung ? Geschwindigkeitsgesetz v = k 2 [ Nu ] [ X ]
mit v k 2 [ Nu ] [ X ]
Reaktionsgeschwindigkeit [mol l -1 s -1 ] Geschwindigkeitskonstante 2. Ordnung [l mol -1 s -1 ] Konzentration des Nucleophils [mol l -1 ] Konzentration des Substrates R 3CX [mol l -1 ]
Trigonal-bipyramidaler ÜZ mit scheinbar "5-bindigem" Kohlenstoff
Geschwindigkeitsbestimmender Schritt
Vorderseitenangriff von Nu
Rückseitenangriff des Nucleophils ? Konfigurationsumkehr ? Stereospezifische Reaktion
? Konfigurationserhalt
‡ (b) (a) (a) C Nu ‡ C Nu C X C X C Nu oder ‡ oder - X (b) Nu C Nu C SN1-Mechanismus ? 1 Teilchen im Geschw.-bestimmenden ÜZ ? unimolekulare Reaktion 1. Ordnung ? Geschwindigkeitsgesetz v = k2 [ X ] mit v Reaktionsgeschwindigkeit [mol l k1 [ X ] -1 s-1 ] Geschwindigkeitskonstante 1. Ordnung [s-1 ] Konzentration des Substrates R3CX [mol l-1 Geschwindigkeitsbestimmender Schritt schnell ÜZ ÜZ (Austritt von X) Trigonal-planare (sp2) ZS mit "3-bindigem" Kohlenstoff (Carbeniumion) Rückseitenangriff von Nu ? Konfigurationsumkehr Summe führt zu Chiralitätsverlust ? Racemisierung ] ? Stereounspezifische Reaktion
* Carbeniumionen werden auch vielfach als Carbokationen (Kation = positive Ladung) bezeichnet – im Gegensatz zu Carbanionen (Anion = negative Ladung).
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Nucleophile Substitution – Energieprofile S N 1 und S N 2
Charakteristika der Nucleophilen Substitution: der S N 1 und S N 2 Mechanismus
Energie
oder
oder
Geschwindigkeits-bestimmender Schritt (Austritt von X - )
Übergangszustand (ÜZ)
Aktivierungs- Energie E A
Zwischenstufe (Carbeniumion)
Geschwindigkeits-bestimmender Schritt (gleichzeitiger Angriff von Nu - und Austritt von X - )
S N 1 S N 2
Ausgangsstoffe (Edukte)
Übergangszustand Aktivierungs- Energie E A
Energieprofil SN1-Reaktion Energieprofil SN2-Reaktion Produkte Produkte
S N 1-Reaktion (unimolekulare nucleophile Substitution) ? Austritt von X - vor dem Angriff des Nucleophils Nu - ? 1 Teilchen im Geschw.-bestimmenden ÜZ (unimolekulare Reaktion) ? Schrittweise Reaktion mit beobachtbarer ZS (und 2 ÜZ) ? Trigonal-planare ZS (sp 2) mit "3-bindigem" Kohlenstoff (Carbeniumion) ? Angriff des Nucleophils von 2 Seiten möglich ? Racemisierung ? Polarer ÜZ, da Ladung zwischen C-X erzeugt wird (heterolytisch)
ÜZ = Übergangszustand ZS = Zwischenstufe
S N 2-Reaktion (bimolekulare nucleophile Substitution) ? Angriff des Nucleophils Nu - und Austritt von X - gleichzeitig ? 2 Teilchen im Geschw.-bestimmenden ÜZ (bimolekulare Reaktion) ? Konzertierte Reaktion ohne ZS (nur ÜZ) ? Trigonal-bipyramidaler ÜZ mit scheinbar "5-bindigem" Kohlenstoff ? Rückseitenangriff des Nucleophils ? Konfigurationsumkehr ? Unpolarer ÜZ, da die Ladung von Nu - auf Nu-C-X verteilt wird
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Nucleophile Substitution – Orbitalmodelle für S N 1 und S N 2
Abb.: © Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005.
S N 2-Mechanismus
S N 1-Mechanismus
sp 2-Hybrid
Carbeniumionen
Übergangszustand H
sp 2-hybridisierte Zentren
Carbeniumionen ? Elektronenmangel
Stabilisierung durch Hyperkonjugation
Stabilität der Carbeniumionen nimmt zu Methyl < Ethyl < iso-Propyl < tert-Butyl
* Die Stabilisierung von Carbeniumionen durch den +I-Effekt der benachbarten Alkylgruppen folgt dem gleichen Trend wie die bereits diskutierte Stabilisierung von Radikalen.
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Nucleophile Substitution – Die Entscheidung S N 1 oder S N 2
Erwartete Produkte – Reaktionsverlauf und Stereochemie
Sterische Hinderung Methyl < Ethyl < iso-Propyl < tert-Butyl
S N 2-Mechanismus
+ CN
S N 2
S N 1
CN CN
Wie in der unten stehenden Reaktion gezeigt, hängt insbesondere der stereochemische Verlauf und die zu erwartende Konfiguration des Substitutionsprodukts entscheidend davon ab, welcher der möglichen Mechanismen der tatsächlich ablaufende ist, SN1 oder SN2: CN
1 : 1
S N 2 ? Konfigurationsumkehr
S N 1 ? Racemisierung
Die Antwort ist relativ einfach: der Reaktionsverlauf hängt sehr stark von den verwendeten Substraten ab, variiert aber auch leicht mit den gewählten Reaktionsbedingungen. Einige grundlegende Zusammenhänge lassen sich gut verstehen:
Abb.: © Vollhardt/Schore, WILEY-VCH, 2005.
Carbeniumionen-Stabilität Methyl < Ethyl < iso-Propyl < tert-Butyl
S N 1-Mechanismus
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Nucleophile Substitution – Die Entscheidung S N 1 oder S N 2
Einfluss von Substrat und Nucleophil
R C H H
primär
R C H R
sekundär
Die Eigenschaften des Substrats (Methyl-, primäres, sekundäres, tertiäres Halogenalkan) bestimmen entscheidend, ob der S N 1 oder S N 2 Mechanismus durchlaufen wird:
S N 2-Reaktivität
Steigende sterische Hinderung
häufig und schnell
? hoch mit sterisch wenig gehinderten Alkyl-Derivaten ? bevorzugt bei guten Nucleophilen in hohen Konzentrationen ? bevorzugt bei guten Abgangsgruppen ? bevorzugt bei polar aprotischen Lösungsmitteln durch Erhöhung der Nucleophilie (früher Angriff von Nu - )
S N 1-Reaktivität
häufig und schnell
Steigende Stabilisierung der Carbeniumionen
nicht beobachtet
nicht beobachtet
? schnell mit hoch-substituierten Alkyl-Derivaten ? unabhängig vom Nucleophil (nicht im Geschw.-bestimmenden Schritt) ? bevorzugt bei sehr guten Abgangsgruppen (früher Austritt von X) ? bevorzugt bei polar protischen Lösungsmitteln durch Stabilisierung der Carbeniumionen
S N 2 S N 2 S N 2 und S N 1 S N 1
relativ langsam
R C R R
tertiär
extrem langsam
polar aprotische Lösungsmittel können die Nucleophilie (Angriff von Nu) stark begünstigen
relativ langsam
häufig und schnell
polar protische Lösungsmittel können den Austritt von X durch H-Brücken begünstigen und die Ladung der Carbeniumionen stabilisieren
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Nucleophile Substitution – Die Entscheidung S N 1 oder S N 2
Wichtige Ausnahmen
primäre Benzyl-Halogenide
X -X primäre Allyl-Halogenide
Mesomerie-stabilisiertes Benzyl-Kation
Mesomerie-stabilisiertes Allyl-Kation
Die oben genannten Regeln zur Reaktivitätsabschätzung (S N 1 oder S N 2 Mechanismus) gelten nur für aliphatische Methyl-, primäre, sekundäre und tertiäre Halogenalkan-Derivate, die nicht in der Lage sind, Resonanz (Mesomerie) stabilisierte Carbeniumionen auszubilden (siehe nachfolgende Kapitel für eine ausführliche Diskussion). Wenn sich ein Mesomerie-stabilisiertes Carbeniumion bilden kann, so wird die Reaktion nach dem S N 1 Mechanismus ablaufen:
Nebenreaktionen
S N 1 Reaktion
S N 1 Reaktion
Nucleophile Substitutionen (beide S N 1 und S N 2 Mechanismus) laufen ausschließlich an sp 3 -hybridisierten Zentren ab, aber nicht an sp 2 - oder sp-hybridisierten Kohlenstoff-Atomen:
sp 2
Phenyl-Halogenide
Vinyl-Halogenide
sp 2
Alkinyl-Halogenide
keine S N Reaktionen
Sterisch anspruchsvolle Nucleophile, vor allem starke Basen in Verbindung mit sterisch gehinderten Alkylhalogeniden führen oft zu Eliminierungsprodukten als Nebenprodukten, die sogar zu Hauptprodukten, oder den ausschließlich beobachteten Produkten, werden können. Eliminierungsreaktionen werden in den Kapiteln „Alkene“ und „Alkine“ behandelt werden.
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Toxizität der Halogenalkane
Physiologische Reaktionen
Viele Halogenalkane (Alkylhalogenide) sind hochreaktive und stark toxische Verbindungen, die in biologischen Systemen unkontrollierte Reaktionen eingehen können. Vorherrschend für reaktive Halogenalkane – insbesondere Methylhalogenide und primäre Alkylhalogenide – sind nucleophile Substitutions-Reaktionen mit reaktiven funktionellen Gruppen wie z.B. Aminen oder Thiolen, die sich in den Bausteinen der Proteine (Aminosäuren) oder DNA (Nucleotide) finden. Hierbei kommt es zu unkontrollierten Alkylierungs-Reaktionen (Übertragung von Alkylgruppen) – unter gleichzeitiger Freisetzung stark saurer Halogenwasserstoffsäuren – die Enzyme blockieren können, oder zu Lese-Fehlern bei der DNA Replikation führen:
COOH
Cystein (Aminosäure)
NH 2
COOH
NH 2
Guanin (DNA Baustein)
- HBr
- HI
NH 2
? S-Methylierung
? N-Methylierung
COOH
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Biochemische Nucleophile Substitutionen (S N-Reaktionen)
Biochemisches "Methyl-Equivalent"
Methionin
Methionin
P P P O O O O O
Triphosphat
Sulfoniumsalz mit hoher Methyl-Übertragungstendenz
NH 3
NH 3
S CH 3
S CH 3
S N 2
S-Adenosylmethionin
NH 2
S N 2
S N 2
S N 2
Adenin (Ade)
NH 2
Guanidinoessigsäure H 2N
Noradrenalin
RCOO
RCOO
NH 2
RCOO
RCOO
Adrenalin
NH 2
dreifache Methylierung
S N 2
NH 2
Kreatin
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Metallorganische Reagenzien
Anwendungen von Halogenalkanen in der Organischen Synthese
Halogenalkane reagieren mit stark elektropositiven Metallen – vor allem Magnesium (Mg) und Lithium (Li)* – zu metallorganischen Verbindungen, die in der Organischen Chemie aufgrund ihres breiten Synthese Potentials breite Verwendung finden.
Grignard-Verbindungen Oxidationszahl R Hal + Mg R Mg Hal "formal": R Hal + 0 Mg ? R +2 Mg Hal
Organo-Lithium-Verbindungen Oxidationszahl R Hal + 2 Li R Li + Li Hal "formal": R Hal + 0 2 Li ? R +1 Li
Hal = Cl, Br, I (nicht F) ? Reaktion von Halogenalkanen mit metallischem Magnesium oder Lithium ? z.T. heftige Reaktion auch bei tiefen Temperaturen (Kühlung nötig) ? Lösungsmittel oft Diethylether oder THF ? Reaktion unter Luft- und Wasserausschluss
Polarisation
Dipolmoment (Polarisationsrichtung)
Angriff von Nucleophilen
d Halogen
Umpolung
Salz
Angriff von Elektrophilen
"Umgekehrte" Polarisationsrichtung
d Metall
Elektrophiles C-Atom Nucleophiles C-Atom
Tetrahydrofuran (THF)
Li 1.0
Na 0.9
Be 1.6
Mg 1.3
Li Hal
Diethylether
Elektronegativitäten einiger Elemente
* Prinzipiell können alle Metalle Bindungen zum Kohlenstoff eingehen, synthetisch interessant sind vor allem Grignard und Li-Organyle wegen ihrer guten Verfügbarkeit und hohen Reaktivität.
B 2.0
Al 1.6
Si 1.9
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Metallorganische Reagenzien
Reaktivität
Die Reaktivität der Organo-Li oder –Mg Verbindungen lässt sich am besten mit den zu erwartenden Eigenschaften von negativ geladenen Carbanionen beschreiben (soll heißen: es liegen „nicht wirklich“ Carbanionen vor, aber sie reagieren so als ob diese vorliegen „würden“).
Reaktivität
d Mg Halogen
d Li
"verhält sich wie"
Carbanionen
+ oder
Mg Halogen
2 Mg Halogen
Grignard-Reagenzien und Lithium-Organyle sind sehr gute Nucleophile und extrem starke – wohl die stärksten überhaupt – Basen.
Anwendungsbeispiele
+ 2 Li
- LiBr
"entspricht"
"schweres" Wasser ? Einführung von Deuterium (H-Isotop)
Hydrolyse
+ H 2O
- LiOH
+ D 2O
- LiOD
"Markierung" von H-Atomen durch Ersatz gegen Deuterium "Rückverfolgung" in biochemischen Experimenten
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Metallorganische Reagenzien
Synthese-Beispiele
Br MgBr
+ Mg
Lösungsmittel Diethylether
+ Mg
+ CO 2
MgBr
Reagenzien: 1.) Mg 2.) CO 2 3.) HCl
MgBr
Synthetische Transformation Halogenalkan ? Carbonsäure
MgCl
Cl - MgCl 2
S N-Reaktion
CO 2 (Kohlendioxid)
"ansäuern"
+ H 3O
- MgBrX
MgBr
S N-Reaktion von Metallorganischen Reagenzien sind in der Praxis aber oft von zahlreichen Nebenreaktionen begleitet. ? Hauptanwendungsbereich: Addition an Carbonylverbindungen